Zur Landwirtschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit bis in das 18. Jahrhundert gehörte die Markenwirtschaft. Ein Verbund von Landwirten verfügte über gemeinschaftlich genutzte Flächen, die nach festen Regeln bewirtschaftet wurden. Die Art der gemeinschaftlichen Bewirtschaftung wurde von Generation zu Generation weitergereicht. Nachhaltige Bewirtschaftung war die Regel, so dass nachfolgende Generationen mit der Übernahme einer geordneten Wirtschaft in einer gepflegten Landschaft rechnen konnten.
Die Lübbecker Mark war ein autarkes Wirtschaftsgebiet mit Wald- und Weideflächen sowie Moor- und Heideanteilen, Steinbrüchen, Lehm- und Sandkuhlen. Sie erstreckte sich auf der Nord-Süd-Achse zwischen Levern und Hüllhorst, auf der Ost-West-Achse zwischen Hille und Börninghausen. Das zur Markenbewirtschaftung gehörende Wiehengebirge war neben dem Holzschlag auch Weideland. Es war überwiegend mit Laubbäumen besetzt und mit Lichtungen durchsetzt. Aus der Art seiner Bewirtschaftung erklärt sich sein Name. Die Bezeichnung „Wiehen“ ist von „Weiden“ herzuleiten. So ist auch der Wiehenweg in Lübbecke zu verstehen. Er durchzieht ein ehemaliges städtisches Weidegebiet.
Die Lübbecker Mark wurde von der Stadt Lübbecke kontrolliert. Holzschlag und Vieheintrieb unterlagen den Vorgaben der Stadt als Markenherr. Es ging um die Lebensgrundlage der Nutzer, der beteiligten Bauern und Bürger. Trotz der Kontrolle, ausgeübt von den Lübbecker Markenförsten sowie Schützenmeistern und Scheffern[1], gab es immer wieder Gebiete, die sich der Kontrolle entziehen konnten. Streitfälle waren die Folge. Dazu gehörte der „Lübbecker Berg“ zwischen Oberbauerschaft und Obermehnen-Vierlinden, der heutige Wurzelbrink. Der in dieser Abhandlung im Folgenden beschriebene Streitfall beschäftigte das Lübbecker Stadtgericht in zahlreichen Sitzungen. Streitpunkt war die Beweidung des „Lübbecker Berges“. Der umstrittene Waldbestand „Lübbecker Berg“ war vom Obermehner Berg,[2] dem Lübbecker Weingarten und dem Beendorfer Kirchweg begrenzt und wurde zum Ärger einiger Lübbecker Bürger von Bauern aus dem Obermehner Ortsteil Vierlinden beweidet. Die Bauern waren Eigenbehörige des Gutes Obernfelde.[3]
Ins Wiehengebirge wurde vor allem Hornvieh eingetrieben. Zur Eichelmastzeit im Herbst, wenn die Schweine eingetrieben wurden, war die Beweidung mit Kühen untersagt. Seit Jahrhunderten hatten die Bauern aus Vierlinden zusammen mit Lübbecker Bürgern den „Lübbecker Berg“ beweidet. Einen gemeinschaftlichen Hirten hatten die Bauern im Gegensatz zu den Bürgern nicht vorzuweisen. Häufig waren es Kinder, die das Vieh hüteten.[4] Manchmal war das Vieh auch hirtenlos.[5] So sollte es nach Meinung der Bauern bleiben auch nach der Parzellierung, die 1717 eingeleitet worden war. Das Recht auf Holzschlag besaßen hier nur einige Bürger der Stadt Lübbecke wie Gerlach, Höpker, Jahrmann oder Bante. Beteiligt waren auch der Lübbecker Magistrat[6] und das Kapitel an St. Andreas sowie die Lübbecker Adelshöfe Cornberg, Recke, Tribbe und Münch. Nur sie erhielten bei der Teilung Parzellen zugewiesen. Nach bürgerlicher Meinung war nach der abgeschlossenen Parzellierung das Gewohnheitsrecht der Beweidung durch die Vierlinder Bauern erloschen. Nur das Durchtreiben auf andere Weideplätze im benachbarten, westlich gelegenen „Obermehner Berg“ wurde geduldet. Bei Weidevieh aus Vierlinder Ställen machten die zum Holzschlag berechtigten Bürger vom gewohnten Schüttungsrecht Gebrauch, dem Recht auf Pfandnahme. Gepfändetes Vieh wurde dem Schüttstall in Lübbecke oder dem Stall in der Nähe des Gutes Obernfelde zugetrieben, wo es bis zu Auslösung verblieb.
Im Sommer 1797 kam es zum Streit. Eine Kuh des Vierlinder Bauern Liekweg war von Lübbecker Bürgern weidend unter Aufsicht von Kindern[7] auf dem „Lübbecker Berg“ angetroffen worden, wo sie nach Ansicht der Lübbecker nichts zu suchen hatte. Die Lübbecker Seite hatte nur die Benutzung eines Treibweges[8], der zum benachbarten Obermehner Berg führte, zugestanden. Dieser Weg war durch Pfähle mit aufgesetzten Strohbündeln gekennzeichnet worden. Die weidende Kuh des Bauern Liekweg wurde sofort von den Lübbeckern als Pfand in Beschlag genommen. Nach Ansicht der Bürger hatte eine „Störung des bürgerlichen Besitzstandes“ vorgelegen. Erst nach Zahlung von einem Reichstaler und drei Mariengroschen wurde die Kuh wieder freigegeben. Bauer Liekweg sowie seine Nachbarn Bokämper und Oeder[9] waren über das Verhalten der Lübbecker empört und baten ihren Gutsherrn Jobst Henrich von Korff auf Obernfelde um Hilfe. Dieser reichte am 30. Mai 1797 beim Lübbecker Stadtgericht Klage ein. Bokämper und Oeder hatten sich der Klage angeschlossen, weil sie sich gleichermaßen als Betroffene fühlten, zumal demselben Bauern eine weitere Kuh gepfändet wurde, die erst nach Abgabe von zwei silbernen Beinschnallen[10] zurückgegeben wurden.[11] Die Klage hatte zahlreiche Gerichtstermine zur Folge. Ein langwieriges Prozessieren war in Gang gesetzt worden. Jede Seite bestand auf ihrem vermeintlichen Recht. Es ging um existenzielle Fragen der wirtschaftlichen Absicherung. Tatsächlich war die Lübbecker Markenaufsicht bei der Beweidung im strittigen „Lübbecker Berg“ nicht eingeschritten. Die Nutzung der Lübbecker Weidegründe im Bruch auf der Nordseite der Stadt Lübbecke war im Gegensatz zur Beweidung des „Lübbecker Berges“ zahlenmäßig begrenzt. Das Weidevieh im Bruch war markiert. Überzählig eingetriebenes Weidevieh wurde hier sofort konfisziert, konnte aber zurückgekauft werden. Geschah das nicht, dann wurde das zurückgehaltene Vieh öffentlich geschlachtet und das Fleisch dem Armenhaus zugeführt. Diese Art der Überwachung war im „Lübbecker Berg“ nicht ausgeübt worden.
Der erste Gerichtstermin im Fall „Beweidung des Lübbecker Berges“ wurde auf den 8. Juni 1797 festgesetzt.[12] Im Gerichtsgebäude, dem Lübbecker Rathaus, standen sich Kläger und Beklagte, Bauern und Bürger, gegenüber. Um ihre Rechtsansprüche zu begründen, hatten beide Seiten mehrere Zeugen aufgeboten. Von der Lübbecker Seite waren Senator Bahre sowie die Bürger Vordmeyer und Bürgerdiener Kassebaum aufgeboten worden. Für die Kläger standen Johann Friedrich Glauert[13] und der Vierlinder Heuerling Evert Schlüter bereit.[14] Nach Meinung der Lübbecker Seite gab es kein Weiderecht mehr für die Vierlinder Bauern. Ihre Ansprüche waren nach der Teilung von 1717 erloschen. Damit stießen die Lübbecker auf heftigen Widerspruch bei den Vierlindern. Wie es das Protokoll erkennen lässt, ging es um mehr als Weiderecht für Hornvieh. Der Lübbecker Berg sollte auch „Hütungs Platz“ für Schweine und Gänse sein. Darüber hinaus wollten die Kläger auch die Lehm- und Sandkuhlen sowie Wasserrechte für ihre private Nutzung gesichert wissen. Markennutzungsrechte waren also angesprochen.[15]
Eine Gruppe Lübbecker Bürger stellten ihre Sicht der Dinge so dar: „Da sich die Bewohner des Vierlindens seit einiger Zeit und besonders seitdem sie ihren Antheil [nach der Markenteilung] von Vierlinden eingefriediget[16] haben, beigehen lassen, ihr Hornvieh und Ziegen in die zur Stadt Lübbecke gehörigen Bergteile tag täglich zu treiben und dadurch die jungen Sprossen in den Holzteilen ab fressen und den Anwachs des Holzes ruiniren zu lassen; von Seiten der Lübbecker Berginteressenten aber dieser Unfug nicht länger nachgesehen werden kann.“ Ziegen wurden, wenn sie im „Lübbecker Berg“ gesichtet wurden, beschlagnahmt, wobei eine Rückgabe ausgeschlossen blieb.[17] Lübbecker Bergteileigner verlangten, dass die bäuerlichen Kläger ihr Weidevieh zurückhalten sollten, damit sich der Baumbestand wieder erholen könne. Die beklagten Bürger bestanden auf ein Pfändungsrecht. Ein Weiderecht war nach Ansicht der Lübbecker Beklagten nur auf den Vierlinden und in der Blasheimer Gemeinheit, den Gemeindewiesen, erlaubt.[18]Bei der Markenteilung im Obermehner Ortsteil waren die Vierlinder entschädigt worden durch Zuweisung von Weideland vor dem „Lübbecker Berg“. Dieses Weideland wurde aber nicht zur Beweidung genutzt, sondern zum „Wiesenwachs“ zur Gewinnung von Heu als Viehfutter. Auch von Umwandlung in „Saatland“ ist die Rede. Wiesenland war also, so der Vorwurf, in Ackerland umgewandelt worden.[19] Trotz Befragung zahlreicher Zeugen war eine eindeutige Rechtslage nicht erkennbar.
Am 13. November 1798 wurde das Urteil bekannt gegeben[20]mit den bekannten Klägern Bokämper, Liekweg und Oeder sowie den beklagten Bürgern Meier, Reichmann. Lehing, Viet, Wittemeyer und Busch. Das Gericht erklärte die beiden vorgenommenen Pfändungen für unwirksam. Weitere Pfandnahmen wurden untersagt. Nach der allgemeinen Öffnung der Weidegründe in der Lübbecker Mark waren die Grenzbezeichnungen des Weideweges durch Stangen mit aufgesetzten Strohwischen zu entfernen, um dem „weide Gange des Viehes der Kläger zu eröffnen“.[21] Das Vierlinder Vieh durfte demnach den „Lübbercker Berg“ ungehindert passieren, um in den Obermehrner Bergteil zu gelangen. Die Beweidung des „Lübbecker Berges“ durch die Kläger wurde von den Beklagten als „Streichhude“ gesehen.[22] Damit war eine geduldete gelegentliche Beweidung gemeint, aus der jedoch wie beim Hüten von Schafen auf offener Feldflur kein Besitzrecht abgeleitet werden konnte. Die Beklagten warfen den Klägern im Übrigen vor, ihren Besitzstand an Weidevieh vergrößert zu haben. Schließlich sprach das Gericht die Aufsicht über den „Lübbecker Berg“ den Lübbecker Schützenmeistern zu. Anerkannt wurde das Weiderecht der Vierlinder, nachdem es auch auch von Lübbecker Bürgern bezeugt worden war. Dazu gehörte der Lübbecker Bürger und Fuhrmann Cord Moehlmann, 50 Jahre alt. Er war in Spradow im Amt Reineberg geboren worden und nach dem Tod seines Vaters wuchs er auf dem Hof seines Vetters und Paten Cord Oeder auf Vierlinden auf, wo er sich über 10 Jahre lang aufhielt und seinem Verwandten als Hirte diente. Moehlmann legte vor Gericht folgendes Zeugnis ab: „In der zeit [bei Oeder] habe ich die Kühe und Rinder des Cord Oeder … des Morgens in den Mehner Blasheimer und auch Lübbeker Berg in der Nachbarschafft zur Weide getrieben, dann ging ich wieder nach Hause, und wann das Vieh gegen11 Uhr Mittags nicht von selbst wieder nach dem Hofe [zum Melken] kam, so ging ich mit dem Hunde nach dem Berge, welcher die dem Vieh umgehangenen Glokken kannte und mit diesem suchte ich das Vieh auf und brachte es nach Hause; so weit bis an den Beendorfer Kirchweg und bis oben auf die Egge des Berges und bis auf den Weingarten bin ich nicht gekommen und ging unser Vieh damahls nicht weiter,… Mein verstorbener Vetter der damahlige Cord Oeder erzählte mir daß seine Kühe und Rinder durch die alten Büchen[23] bis nach dem Lübbecker Weingarten gehen dürfften, allein weiter weiß ich nichts davon.“[24]
Die beklagten Lübbecker Bürger verloren den Prozess, der ohnehin nichts als Ärger und Kosten eingebracht hatte. Die bestehenden Weiderechte der Vierlinder wurden bestätigt. Liekweg erhielt einen Anteil bei der Parzellierung. Im Übrigen wurden die Vierlinder verpflichtet, einen Hirten bereit zu stellen.
Lübbecke. Im November 2019
Text und Illustration: Helmut Hüffmann.
Karten Geometer Knippenberg von 1797: „Lübbecker – und Mehner Berg“.
[1] Helmut Hüffmann, Schützenmeister, Bruchherren, Vierziger im Bürgerbuch der Stadt Lübbecke. In: 97. Jahresbericht des
Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, Jg. 2012, S. 99 ff.
[2] Trennung von Obermehner und Lübbecker Berg durch Kahle-Wart-Weg.
[3] StadtAL, A 190, Bl .7.
[4] StadtAL, A 189, Bl.23. A 190, Bl. 9´.
[5] StadtAL, A 189., Bl. 224.
[6] Das Magistratsholz lag auf der Südseite des Gebirges nahe der Bauerschaft Beendorf.
[7] StadtAL, A 189, Bl.5 u.7.
[8] StadtAL A190., Bl. 7.
[9] Hof Oeder, das spätere Obernfelder Pflegehaus, liegt im Lübbecker Berg. StadtAL, A 190, Bl. 133´.
[10] Steigbügel.
[11] StadtAL. A 189, Bl. 23.
[12] Ebd., Bl.4 ff.
[13] Gemeint sein dürfte der heutige Standort Eikeler Straße 8.
[14] StadtAL, A 190, Bl. 11..
[15] Ebd., Bl. 12.
[16] Eingezäunt.
[17] StadtAL, A 190., Bl 16´.
[18] StadtAL, A189, Bl. 15´ f.
[19] Ebd., Bl.76.
[20] Ebd. ,Bl. 234 ff.
[21] Ebd., Bl. 235´.
[22] Ebd., Bl. 237´.
[23] Waldteil vor Obernfelde. Heute Flurteil „Korffs Gehölz“
[24] StadtAL, A 189, Bl.183 ff.