Von Helmut Hüffmann, Stadtarchiv Lübbecke
Zu den vergessenen Straßen in Lübbecke gehört die „Köttelbeke“, heute obere Bäckerstraße. Mit „Beke“ ist ein Bachlauf gemeint, mit „Köttel“ die tierischen Exkremente, also Kot.[1] Wie passt das zu einem Bachlauf innerhalb einer Stadt? Dass Städte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit von Bachläufen durchzogen waren, ist nicht ungewöhnlich.[2] Die Versorgung der Stadt über offen liegende Gewässer war nur möglich über die reichlich fließende Quelle der Ronceva an der Bergstraße nach Herford nahe der Bunten Brücke. Der Wasserzufluss reichte über die innerstädtische Versorgung hinaus auch zur Flächenbewässerung der nördlich der Stadt gelegenen Bruchwiesen im Frühsommer, um einen guten Graswuchs für die Heuernte zu ermöglichen.
Im Jahre 1795 hatten sich Zustand und Lage in Lübbecke kaum verändert. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es dazu: „Es befinden sich in Lübbecke 7 breite und tiefe Quergossen, welche das in der Stadt sich sammelnde Wasser ableiten. Und [...] schwer beladene Wagen Gefahr laufen durch den hefftigen Stoß bey der Ueberfahrt unter der Last zu zerbrechen.“[3] Schwere Unfälle gehörten zum Alltag. Ein Fuhrwerk zu jener Zeit durch Lübbecke zu kutschieren, erforderte Erfahrung und Geschick.
Damit in allen vier Stadtvierteln ausreichend Wasser für die nötige Durchflutung der innerstädtischen Bachläufe verfügbar war, konnte der Stauteich „Feuerrenne“ vor dem Bergertor genutzt werden. Das Gefälle sorgte für eine kontinuierliche Wasserzufuhr - jedoch nicht in der Köttelbeke, bedingt durch deren abseitige Lage. Die Fußgänger konnten private und sieben von der Kämmerei zu unterhaltende Brücken benutzen, um die Bachläufe zu überqueren.[4]
Das Wasser in den Bächen wurde zur Ableitung von Nutz- und Regenwasser eingesetzt. Es konnte aber an günstigen Stellen mit unverbrauchtem Wasser auch zur Entnahme von Wasser zur Viehtränke oder als Klopfstellen zur Reinigung von Wäsche[5] genutzt werden. Nutzstellen zur Wäschereinigung standen auch am Stadtgraben zur Verfügung.[6] Bewachte Wäschebleichen lagen vor der Stadtmauer.[7] Für den Abfluss des angesammelten Wassers war eine Ableitung in den Stadtgraben am Niedertor möglich oder über die Gräben am Rahdener Weg in Richtung Johannismühle.[8]
Bei Starkregen konnte man die Wassermassen kaum beherrschen. Vom Bergertor kommend, schoss das Wasser die abfallenden Straßen hinunter und bot eine günstige Gelegenheit, Schmutzwasser los zu werden. Wer konnte da schon Kontrollen ausüben?
Der sorglose Umgang mit Nutzwasser war für Krankheitserreger der ideale Nährboden. Seuchen wie die Pest in den Jahren 1626 und 1711 konnten sich in kurzer Zeit ausbreiten. Auch die Spanische Grippe fand noch 1918 bei einer unterernährten Bevölkerung günstige Voraussetzungen. In Lübbecke waren 1918 bis Oktober bereits 116 Todesfälle zu verzeichnen.
Im 19. Jahrhundert, als die Seuchenbekämpfung von den Behörden erfolgreich eingeleitet wurde, betrug das Durchschnittsalter in Lübbecke etwa 46 Jahre. Erst die verbesserten hygienischen Voraussetzungen und die Impfpflicht im frühen 19. Jahrhundert[9] ließen das Durchschnittsalter steigen.
Wichtige Voraussetzung für die Gesundheitsvorsorge kam dem Umgang mit Wasser zu. Die Trinkwasserversorgung geschah noch im frühen 20. Jahrhundert über Brunnenwasser.[10] War kein Hausbrunnen vorhanden war, wurden die Haushalte über Brunnengemeinschaften versorgt. Dabei versorgte ein öffentlicher Brunnen mehrere Haushalte. Die Aufsicht über die Brunnen besorgte für ein geringes Entgelt der Brunnenmeister. Das Entgelt war von den Nutzern aufzubringen.
Bei dem Bachlauf der Köttelbeke ist zu unterscheiden zwischen einem oberen Teil, gelegen zwischen den Burgmannshöfen der Familien Tribbe und Klencke.[11] Er wurde aus dem erweiterten Stadtgraben, hier dem Mühlenteich[12] der Klenckes, bewässert. Zudem gab es den an Wochen- und Viehmärkten verdreckten tiefer gelegenen unteren Teil des Bachlaufes zwischen Markt und Eingang Lange Straße. Als Nutzwasser konnte nur der obere Teil gebraucht werden, der direkt am Klenckeschen Hof vorbeifloss. Die Klenckes hatten darauf zu achten, dass die tiefer liegende Köttelbeke an Markttagen mit genügend Wasser versorgt wurde, das ihrem Mühlenteich im Stadtgraben entnommen wurde. Zu diesem Zweck war der Mühlenteich über ein Staubrett zu öffnen.
Wie kamen die Köttel nun in den Bachlauf? Um 1700 gab es noch den Viehhandel auf den vier Großmärkten in der Stadt. Exkremente des aufgetriebenen Viehs wurden über die Köttelbeke entsorgt. Wer die Märkte besuchte, atmete sofort die typisch städtische Luft, gespeist aus dem Dunst der Gewerbe wie Brauereien, Gerbereien und Färbereien oder Viehhaltung auf engstem Gebiet samt Mistfall[13] vor der Haustür. Dazu gehörte auch der intensive Gestank aus der Köttelbeke an Markttagen. „Stadtluft macht frei“ hieß der seit dem Mittelalter bekannte Werbespruch. Wer in die bürgerliche Rechtsgemeinschaft eintreten wollte, musste den Nachweis der persönlichen Freiheit erbringen. Er durfte nicht mehr den Zwängen einer Gutsgemeinschaft ausgesetzt sein. Erst dann konnte er die typische Stadtluft einatmen.
Den Zustand an der Lübbecker Köttelbeke wollte die Stadtverwaltung auf Drängen vieler Bürger zu Anfang des 17. Jahrhunderts ändern. Anzunehmen ist, dass der Durchlauf an Markttagen oft nicht ausreichend war, um die Abfälle wegzuspülen.
Näheres zur Köttelbeke erfährt man aus einem Notariatsinstrument, einem „instrumentum publicum“, ausgestellt am 28. September 1617 von dem Notar Peter Radeleff.[14] Anna Klencke, Witwe des Dietrich Klencke und eine geborene von Schloen gen. Tribbe, vollzog den Willen ihres verstorbenen Mannes. Anna war bereit, auf ihre Rechte an der Köttelbeke zu verzichten. Der Anteil, auf den sie zu verzichten bereit war, wird mit den Worten beschrieben: „Ein[e] Beke, die Kottellbek genandt, binnen Lübbeke an der Stadt Muren belegen“. Gemeint ist der unverschmutzte Bachteil. Hinter Annas Verzicht stand das Drängen der Stadtverwaltung, nämlich der Ritterschaft nebst Bürgermeister und Stadtrat sowie der städtischen Schützenmeister und ihrer Scheffer.[15] Bei dem Rechtsvorgang in Radeleffs Kanzlei war auch Stats[16] Tribbe anwesend, „so sie [Anna] bey sich stehende gehabt“. Hier wurde der Rechtsgewohnheit jener Zeit Genüge getan, denn Frauen waren zu dieser Zeit keine rechtsfähigen Personen. Sie brauchten einen männlichen Rechtsvertreter, sei es den Vater oder den Ehemann. Waren diese nicht vorhanden, dann wurde ein naher Verwandter oder Bekannter beauftragt. Frauen standen dauerhaft unter Vormundschaft. Auffallend an dem Rechtsakt vom 28. September 1617 war Annas Auftreten als selbständig handelnde Person. „...mit Uberreichunge Ihrer Handt [war der Rechtsakt] bestetigt und corroborirt“. Die Rechtskraft wurde also durch Handschlag zwischen Anna und dem Rechtsanwalt hergestellt. Die Beurkundung sah vor, dass Anna im Sinne ihres verstorbenen Mannes auf ihre Rechte an der Köttelbeke verzichtete. Die Handhabung der Wasserrechte, besonders der Regulierung des Wasserstandes, ging an die Stadtverwaltung über. Daher war bei dem Rechtsakt der Stadtdiener Curt Meyer anwesend, der an Markttagen für die Aufsicht über den Bach zuständig gewesen sein dürfte. Die Bürgerschaft war vertreten durch Schützenmeister Hinrich Alemann sowie die Bürger Frederich Dodingh und Johann Boelen, vermutlich beide Anrainer der Köttelbeke.
Ort der Beurkundung war „Hadewich hauß Eichhalde in furdersten Platze fur [vor] der Bruggen [Brücke]“.[17] Dieses Haus grenzte an den Tribbenhof und lag am Marktplatz vor der Brücke, die, so ist anzunehmen, den Zufluss zur Köttelbeke überquerte. Das Haus lag also nur wenige Schritte von Klenckes Hof entfernt, sozusagen auf der anderen Straßenseite.
Zur Situation des Klenckeschen Hofes[18] liefert der Rechtsakt von 1617 nur einen vagen Hinweis. Es heißt dort, dass der Hof an der Stadtmauer liege, „binnen Lübbecke an der Stadt Muren belegen“.
Eine genauere Lage kann aus der Beurkundung eines Verkaufes vom 23. April 1627 abgeleitet werden.[19] Vor dem Stadtgericht verkauften damals Hermann von Westrup und seine Frau sowie Schwiegersohn Dietrich von der Recke nebst Frau dem Amtmann zum Reineberg, Georg Deichmann, und dessen Frau ihren Burgmannshof in Lübbecke, der zwischen Ernst Klenckes Hof und der Langen Straße lag.[20]
Wann wurde die Köttelbeke als Bachlauf aufgegeben? In den Jahren 1855 bis 1860 wurde sie auf Kosten der Anrainer verbreitert. Der Straßenabschnitt war ein Teil der Herforder Poststraße geworden, die vom Bergertor über die Danzelstätte und Köttelbeke zum Ausgang, dem Niedertor, führte. Dabei streifte sie den Posthof am Eingang zur heutigen Gerbergasse. Sie wurde gepflastert, Entwässerungsröhren wurden verlegt, wie die Stadtchronik zum 19. Jahrhundert berichtet.[21] Der ursprünglich durchfließende Bach war trockengelegt, der Zufluss geschlossen worden. Die Köttelbeke hatte ihre ursprüngliche Funktion verloren. Nur der Straßenname erinnerte noch jahrzehntelang an ihre frühere Aufgabe. Die Straßenbezeichnung „Köttelbeke“ wurde noch bis 1927 im amtlichen Sprachgebrauch geführt. Damals beschloss der Stadtrat die Umbenennung des anrüchigen Straßenzuges. Die heutige Bezeichnung Bäckerstraße zwischen Marktplatz und Gänsemarkt wurde amtlich besiegelt zur Zufriedenheit der Anwohner. Zwei Straßenteile waren unter der Bezeichnung Bäckerstraße zusammengeführt worden.
Die öffentlichen hygienischen Zustände in Lübbecke blieben nach der Trockenlegung der Köttelbeke und weiterer Wasserläufe im Stadtbild verbesserungswürdig. Das sollte auch vorläufig so bleiben. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg sowie in einigen wenigen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Verhältnisse nicht verändert. Das Spülwasser aus den Küchen floss häufig noch dampfend vor den Häusern in die Straßengossen. Die Toiletten wurden gewöhnlich noch privat entsorgt. Dazu dienten ein Handwagen und ein kleines Jauchefass. Größere landwirtschaftliche Betriebe in der Stadt besaßen ein großes Fass, wie es auf den Bauernhöfen vor der Stadt in Gebrauch war. Das Fuhrunternehmen Kottmeier an der Tonstraße hatte die Entsorgung zu einem Geschäft gemacht. Der zweispännige Wagen, bestückt mit einem großen Jauchefass, fuhr vor. Es gab einen lauten Knall. Im Inneren des Fasses war Karbid zur Explosion gebracht worden. Der Deckel auf der Füllöffnung hob kurz an, um dann herunterfallend das Fass fest zu verschließen. Sauerstoff war entzogen worden. Durch den erzeugten Unterdruck konnte die Jauche angesaugt werden. Das Pferdegespann war den lauten Knall gewohnt und blieb geduldig im Geschirr. Gärten und Äcker wurden damals noch natürlich gedüngt. Der Kunstdünger war bei der bürgerlichen Garten- und Ackerwirtschaft noch nicht allgemein gefragt. Das Fuhrunternehmen Kottmeier konnte unterschiedliche Kundenwünsche befriedigen. Zum Fuhrpark Kottmeier gehörten neben dem Jauchewagen eine Vergnügungskutsche für Familienausflüge, die bei Regenwetter bedacht werden konnte, und ein Leichenwagen.
Nach jahrelangen Vorbereitungen hieß es 1934 in Lübbecke „Wasser marsch“. Die zentrale Wasserversorgung war in Betrieb genommen worden. Es gab kein lästiges Pumpen mehr oder Abschöpfen mit einem Eimer am Ziehbrunnen. Ein Wunder war geschehen. Man brauchte nur noch den Wasserhahn aufzudrehen. Eine Zäsur gab es im letzten Kriegsjahr, als im März 1945 Bomben in der Langen Straße und auf dem Marktplatz detonierten. Plötzlich war in der Innenstadt die Wasserversorgung gestört. Was half in der Not? Die Hausbrunnen, sofern noch intakt, waren wieder willkommene Wasserlieferanten.
Im August 2020
Autor: Helmut Hüffmann
Die Bezeichnung Köttelbeke wiederholt sich im Ruhrgebiet. So wurden einmal die Emscher sowie Zuflüsse der Lippe bezeichnet. Abflüsse aus Industrie und Haushalt wurden über die Bäche entsorgt. Inzwischen wurde diese Art der Entsorgung bereinigt.
[2] Ein Beispiel: Freiburg im Breisgau.
[3] Stadtarchiv Lübbecke (zit.: StadtAL), A 29, Bl. 198.
[4] StadtAL, A 51, Bl. 41 f.
[5] Die Wäsche wurde mit einem zu diesem Zweck angefertigten Schlagstock bearbeitet, um den Schmutz zu entfernen.
[6] Statt eines privaten Wachbrettes konnten auch öffentlich nutzbare Klopfsteine benutzt werden.
[7] Eine Bleiche lag damals vor dem Bergertor an der Ronceva auf dem Gelände der heutigen Smurfit Kappa Wellpappenwerk Lübbecke. Weitere Bleichen wurden später angelegt, so die Matzenbleiche am Gehlenbecker Weg, Abzweig Bleichstraße, sowie eine Bleiche vor dem Gut Obernfelde.
[8] StadtAL, A 51. Verfügung vom 12. Okt. 1804.
[9] Westfälischer Anzeiger 1807, S. 646.
[10] Helmut Hüffmann, Die Stadtwerke Lübbecke – ein Traditionsunternehmen mit Zukunft. Ein geschichtlicher Überblick, Lübbecke 2006, S. 69 ff.
[11] Heute beiderseits der Franz-Welschof-Straße.
[12] Teich wurde vordem auch zur Wasserprobe, z.B. dem Hexenbaden, genutzt. Vgl. Helmut Hüffmann. Wo wurden in Lübbecke die Hexen gebadet und wie ging man mit Denunzianten um? In: 88. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, Jahrgang 2002/03.
[13] StadtAL, A 657, Bl. 38.
[14] StadtAL, A 657, Bl. 4 ff.
[15] Helmut Hüffmann, Schützenmeister, Bruchherren, Vierziger im Bürgerbuch der Stadt Lübbecke. In: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, Bielefeld 2012. Hier passim die Einbindung der Schützenmeister in die Stadtverwaltung.
[16] Abkürzung für Statius.
[17] StadtAL, Bürgerbuch, S. 27, Nr. 23.
[18] Zum Klenckeschen Besitz gehörte auch Renkhausen vor den Toren der Stadt.
[19] Landesarchiv NRW Abtl. Münster, Dep. Von der Recke-Obernfelde, Findbuch S. 84.
[20] Heute Firmengelände der Eduard Gerlach GmbH. Abweichende Angaben bei Kurt Heidenreich, Die Burgmannshöfe der Stadt Lübbecke. In: Heimatgeschichtliche Beiträge, Bd. I, Pr. Oldendorf 1969. Heidenreich folgt den Angaben von Karl Adolf von der Horst, Die Rittersitze der Grafschaft Ravensberg und des Fürstentums Minden, Berlin 1884. Ergänzend Nachtrag von 1898.
[21] StadtAL, Stadtchronik 19. Jahrhundert, S. 240, 397, 414, 423.