Stadt Lübbecke

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Gerüchte und Spekulationen im Jahre 1945

Das letzte Kriegsjahr des Zweiten Weltkrieges habe ich, der Autor des nachfolgenden Artikels, als Dreizehnjähriger in Lübbecke bewusst erlebt und gehöre damit zu den Zeitzeugen, die in einer überschaubaren Zeit diese Welt verlassen werden.

Deutschland bekam 1944/45 die Folgen eines Zweifrontenkrieges mit aller Härte zu spüren: Stalingrad war von den Sowjets eingenommen, die Alliierten waren in der Normandie gelandet. Die unsinnigsten Gerüchte waren im Umlauf. Die unverbesserlichen Nationalsozialisten vertrauten dennoch der Weisheit ihres Führers und glaubten allen Ernstes an eine Wende an der Kriegsfront. Ihr oberster Kriegsherr würde, so das Gerücht, sich mit den westlichen Alliierten gegen die Sowjets verbünden.

In Erinnerung geblieben sind mir die schussbereiten Tiefflieger der Briten und Amerikaner, die plötzlich über Lübbecke hinwegdonnerten. Die alltägliche Präsenz der Alliierten wurde so jedem vor Augen geführt. Eine Luftabwehr existierte nicht mehr. Der Luftraum war unübersehbar in alliierter Hand. In Lübbecke war ein Personenzug auf offener Strecke zwischen Bahnhof und Kanalbrücke zur Zielscheibe eines Tieffliegerangriffs geworden. Obwohl höchst gefährlich, ließ ich es mir damals nicht nehmen, vom Gartentor meines Elternhauses in Lübbecke aus, Tieffliegerangriffe zu beobachten. Die im wahrsten Sinne augenblickliche Gefahr war mir überhaupt nicht bewusst, trotz aller Verbote und Ermahnungen. Einen Augenblick persönlicher Gefahr sollte ich im letzten Kriegsjahr an einem schönen Frühlingstag erleben.

Es war ein Vormittag des Kriegsjahres 1945, am 24. März. Ich hielt mich bei Bekannten auf, die das Obergeschoss der Villa Frese [1] am Geistwall, nicht weit vom Marktplatz, als Mieter bewohnten. Die Sirenen hatten akute Luftgefahr angekündigt. Ich war Schüler der Aufbauschule am Geistwall. Den Luftschutzkeller der Schule brauchte ich nicht aufzusuchen, weil ich die Möglichkeit hatte, einen Schutzraum in einem der Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule zu benutzen, nämlich den der Villa Frese. Die allgemeine Vorschrift hieß, bei direkter Gefahr, sobald die Sirenen mit ihrem Geheul akute Luftgefahr ankündigten, die Schutzräume sofort aufzusuchen. Jedoch wurde diese Vorschrift von den Lübbecker Bürgern kaum beachtet. Sie glaubten, in einer Kleinstadt wie Lübbecke sicher zu sein. Nur die in Lübbecke eingewiesenen Evakuierten, die den Bombenterror in den Großstädten aus persönlichem Erleben kannten, packten schon bei Voralarm ihre Habseligkeiten, Sparbuch, Pässe, Familienbuch und Versicherungspolicen sowie Trinkflasche und Butterbrotsdose, zusammen, um die tief in den Berg eindringende Höhle in der Nähe der Brauerei Barre aufzusuchen. Diese bot am Ende des Ganges einen geräumigen Schutzraum. [2]

In Lübbecke war man vor Luftangriffen ohnehin ziemlich sicher, denn in London war es zu dieser Zeit beschlossene Sache, hier in Lübbecke nach dem Sieg der Alliierten ein Verwaltungszentrum für die britische Besatzungszone einzurichten. Die Voraussetzung war in Jalta geschaffen worden.

Ich saß an dem besagten Tag in einem Korbstuhl auf dem Balkon der Villa Frese und ließ die fliegenden Festungen, viermotorige Lancasterbomber der Briten und die Boeing B -17 der Amerikaner, am Himmel bei dröhnender Geräuschkulisse vorüberdonnern. Es war ja ein alltägliches Bild. Was konnte schon passieren? Und doch geschah es. Ich ließ meine Lektüre kurz außer Acht, blickte in den fast wolkenlosen Himmel, als ich zwei schwarze Flecken auf die Stadt vor meinen Augen herunterrasen sah. Es folgten ohrenbetäubende Detonationen, dass die Wände wackelten, Fensterscheiben zersplitterten und Dachpfannen von den Dächern flogen. Blitzartig aufgeschreckt, lief ich ins Haus zurück, um mit der Gastfamilie hastig den Keller aufzusuchen.

Am nächsten Tag tat sich ein Bild der Zerstörung auf. In der Stadtmitte an der Langen Straße waren zwei Häuser zerstört. Auf dem Marktplatz waren zwei Lindenbäume entwurzelt worden, eine Gaslaterne war wie ein zerbrechlicher Stock abgeknickt. Wie sich schnell herumgesprochen hatte, waren Tote zu beklagen, Bewohner der beiden zerstörten Häuser. Verwüstungen, wohin man blickte.

Zu dieser Zeit war die Versorgung der Stadt mit Wasser, Gas und Elektrizität noch halbwegs in Ordnung. Die Versorgung mit dem täglichen Bedarf an Lebensmitteln wurde über die Ausgabe von Lebensmittelmarken überwacht. Die zugeteilten Portionen erzwangen äußerste Sparsamkeit. Glücklich, wer Verwandte auf dem Lande hatte und nach einem Besuch eine Kanne Vollmilch mit nach Haus nehmen konnte. Sonst war man auf die bläulich schimmernde rationierte Magermilch angewiesen, die im Amtsdeutsch beschönigend „entrahmte Frischmilch“ hieß. Vollmilch war den Kleinkindern vorbehalten. Die Zuteilungen hatten eine egalitäre Gesellschaft hervorgebracht, in der sich jeder selbst der Nächste war.

In der Stadt gab es aber einen Fleischlieferanten, bei dem man ohne Lebensmittelkarten einkaufen konnte, den Pferdeschlachter Büter im Scharrn.
Galgenhumor machte sich breit mit dem Vers:

„Pferdefleisch ist billig, Schweinefleisch ist knapp,
dann gehen wir nach Büter und holen uns trapp trapp.
Und alle Leute soll'n es seh'n,
wenn wir bei Büter Schlange steh'n
für eine Mark und zehn“.

Gesungen wurde der Text nach der Melodie des Schlagers „Lili Marleen“, ein Schlager, der auf beiden westlichen Frontseiten nur zu gut bekannt war.

Das Lübbecker Land erhielt zu dieser Zeit unverhofften Besuch aus dem Ruhrgebiet, das einem dauernden Bombardement ausgesetzt war. Die Familien der Bergleute erinnerten sich an ihre Verwandtschaft auf dem Lande. Vor Jahrzehnten waren junge arbeitslose Männer aus dem Lübbecker Land in das Ruhrgebiet abgewandert, wo genügend Arbeit in den Bergwerken auf sie wartete. Ihre Nachkommen fuhren 1944/45 in den überfüllten Zügen der Reichsbahn zum Hamstern ins Lübbecker Land mit Tauschobjekten im Gepäck. Böswillige behaupteten später, die Bauern hätten ihre Ställe mit eingetauschten Teppichen auslegen können.

Das herrschende Regime der Nationalsozialisten wurde bei den gestandenen Sozialdemokraten und Kommunisten im Ruhrpott mit Spottversen überzogen. Mit Erstaunen, aber auch Besorgnis nahm man in meinem Elternhaus folgenden Vers zur Kenntnis, der die Sportpalastrede des Reichspropagandaministers Goebbels aufs Korn nahm. Der Vers hieß:

„Lieber Tommy fliege weiter
und verschon uns Ruhrarbeiter.
Fliege nach Berlin,
die haben am lautesten 'Ja' geschrien“.

Wäre dieser Text publik geworden, polizeiliche Verhöre wären die Folge gewesen. Als Volksfeind wäre man inhaftiert worden.

Wenige Monate vor Kriegsende begannen viele Bürger, den Meldungen des Deutschen Reichsrundfunks gründlich zu misstrauen. Niemand durfte wissen, was sich vor den heimischen Rundfunkgeräten abspielte, auch im eigenen Elternhaus. Hier wurde ein Gerät der Marke Saba abgehört. Die Skala wurde so eingestellt, dass die Deutsch-Sendungen der BBC abgehört werden konnten. Das Radio wurde sehr leise gestellt und das Ohr direkt an den Apparat gehalten. Niemand sollte von der Aktion Kenntnis erhalten. Äußerste Vorsicht war angeraten.

Je näher das Kriegsende rückte und damit der Sieg der Alliierten, um so üppiger machten die unsinnigsten Gerüchte die Runde. So wurde hinter vorgehaltener Hand getuschelt, die deutsche Filmschauspielerin Olga Tschechowa, die in Russland aufgewachsen war, sei den russischen Truppen auf einem Schimmel entgegengeritten, um Friedensverhandlungen einzuleiten.

In jüngster Zeit findet der Einmarsch der Alliierten, der Briten, Amerikaner und Kanadier in Lübbecke, wieder Beachtung in der Presse. Am 4. April 2021 erschien in der Neuen Westfälischen ein Artikel mit Zeitbezug. [3] Das Lübbecker Land war am 4. April 1945 besetzt. Beim Einmarsch der alliierten Truppen in Lübbecke soll sich folgende Szene zugetragen haben, die auf die Aussage einer Lübbeckerin zurückgeht [4]: „Die mit einem Lübbecker verheiratete gebürtige Britin May Bokämper ging den Briten entgegen.“ Wie ist diese Anmerkung zu verstehen? Es wird der Eindruck erweckt, die zierliche Frau Bokämper habe den anrollenden Konvoi schwerer Militärfahrzeuge angehalten und begrüßt, während die übrigen Bürger ängstlich in ihren privaten Räumen geblieben seien. May Bokämper wird so eine außerordentliche Stellung für diesen Tag eingeräumt. Der Weg zur Mythenbildung wird freigesetzt. Tatsächlich war der Einmarsch zu nachtschlafender Zeit erfolgt. Dass Frau Bokämper später am Tage Kontakt aufnahm, bleibt unbestritten. Aus eigenem Erleben kann ich hinzufügen, dass sich Bürger durchaus vor das Haus trauten, um am frühen Morgen das einzigartige Spektakel des vollendeten Einmarsches anzusehen. Ich habe den Einmarsch selbst direkt erlebt. Die Reaktionen der Anwohner an der Alsweder- und der Bahnhofstraße waren sehr vorsichtig. Weiße Betttücher waren ausgehängt als Zeichen der Übergabe. Es gab einige wenige Hausbewohner, die sich auf die Straße trauten und direkten Kontakt aufnahmen. Ich erinnere mich daran, dass britische Soldaten, die sich an der Alsweder Straße eine Ruhepause gönnten, nach Hühnerställen fragten. Sie wollten ein paar Eier in die Pfanne hauen. Bewaffnet suchten sie ein Haus an der Alsweder Straße auf und wurden fündig. Das lang ersehnten „full breakfast with eggs and bacon“ konnte vorbereitet werden. Die Jungen am Straßenrand bestaunten die martialische Auffahrt der Besetzer. Die Indoktrination der Nationalsozialisten, die über die Wochenschau im Kinosaal, die Presse und die Hitler-Jugend ständig präsent war, war plötzlich wirkungslos geworden.

Die Besatzungsmacht erwies sich gegenüber der Familie Bokämper vorerst als nicht besonders entgegenkommend. Das Haus Bokämper, ein Zweifamilienhaus, am Eingang der östlichen Pettenpohlstraße, wurde beschlagnahmt. Das Haus wurde von den blinden Gebrüdern Bokämper und ihren Familien bewohnt. Das Haus lag in der unter Militärrecht stehenden mit Stacheldraht abgesicherten Zone. Auf persönliche Befindlichkeiten wurde keine Rücksicht genommen, auch nicht darauf, dass hier eine geborene Britin wohnte. Sie war mit Fritz Bokämper verheiratet, einem Musik- und Sprachlehrer. Er unterrichtete u. a. Esparanto. Seine Familie bewohnte die obere Etage. Bruder Karl, Telefonist bei der Zigarrenfabrik Aug. Blase, die untere. Mit Fritz Bokämper war ich persönlich befreundet. Mit ihm habe ich zahlreiche sonntägliche Spaziergänge unternommen, wobei die damalige politische Lage ein Dauerthema war. Die sowjetische Militärmission war nicht weit vom Hause Bokämper in einen Neubau an der Andreasstraße eingewiesen worden, der sofort mit Planen vor neugierigen Blicken geschützt wurde. Verängstigt fragten wir uns: „Werden wir auf die Dauer den Schutz der britischen Besatzungsmacht behalten? Werden wir gar den Sowjets ausgeliefert?“

May Bokämper war bei der Besatzungsmacht bald eine gefragte Dolmetscherin. Sie durfte mit ihrem Mann und Sohn Walter in ihre alte Wohnung zurückkehren. Die untere Etage blieb beschlagnahmt. Hier zog der britische Presseoffizier ein, der später in die beschlagnahmte Bürgermeistervilla am westlichen Zugang von Fünfhausen umzog. Dessen Tochter nahm in jüngster Zeit Kontakt mit dem Stadtarchiv Lübbecke auf. Ich führte zahlreiche Gespräche mit ihr. Ich hatte sie als Vierjährige noch persönlich als äußerst lebhaftes Kleinkind erlebt. Der Name Bokämper war für die Briten nur mit Akzent nachzusprechen. May Bokämper war bei den Briten allgemein als „Mrs B“ [Bi] bekannt.

Während der Kriegszeit regelten Raucherkarten den Tabakkonsum, da Zigaretten, Zigarren und Tabak nur begrenzt zur Verfügung standen. Das Raucherverhalten sollte sich unter der Besatzungsmacht verändern. Die Marken wechselten. Statt der deutschen Zigarettenmarke Eckstein waren jetzt die Marken Dunhill und Marlboro begehrt. Sie waren aber nur auf Umwegen erhältlich. Zahlreiche Lübbecker hatten Arbeit beim „Tommy“ gefunden, sei es als Boilermänner, die die Heizungen zu warten hatten, oder noch besser als Küchenhilfe. Hier tat sich die Möglichkeit auf, gute Margarine, Weißbrot, Kaffee, Corned Beef sowie Tabakwaren zu ergattern. Letztere waren die neue Währung und öffneten viele Türen zu Waren, die allgemein nicht im Angebot waren. Neu und begehrt war „chewing gum“ (Kaugummi). Man kam sich damit so amerikanisch vor. Eine speziell für die britische Zone eingeführte Währung war auf die Dauer wenig erfolgreich.

Die allgemeine Versorgungslage blieb nach Kriegsende vorerst äußerst bescheiden. Lebensmittel blieben rationiert. Hilfe kam aus den USA in Form der privaten Care-Pakete. Allgemein sorgten Amerikaner für eine Verbesserung der Notlage. Zum Angebot gehörte Cubazucker, eine klebrige Masse, die an einen Ameisenhaufen erinnerte. Es war eine Eigenart des Zuckers, dass er auf der Oberfläche immer in Bewegung zu sein schien. Da das Angebot an Teigwaren aus heimischer Produktion dürftig war, halfen die Amerikaner mit Maismehl aus. Das Maisbrot kam dem deutschen Geschmack nur bedingt entgegen. Aber was half es? Der Not gehorchend gehörte Maisbrot 1945/46 auf den Frühstückstisch. Ein Frühstücksei war purer Luxus. Das traf für die Lübbecker Haushalte nur bedingt zu. Bei vielen Bürgerhäusern scharrte und gackerte ein munteres Hühnervolk im Hinterhof. Ein Problem blieb: Wo gab es Hühnerfutter zu kaufen? Ein Lieferant war Müller Nagel in der Roten Mühle nördlich der Bohlenstraße. Eine andere Möglichkeit bot die Genossenschaft an der Alsweder Straße. Sie grenzte an die Gasanstalt [5]. Sobald die Getreidefelder abgeerntet waren, hatten die Kinder eine wichtige Beschäftigung, Ähren auf den Stoppelfeldern und damit Futterkorn für die Hühner aufzusammeln.

Viele Häuser hatten einen Stall im Hinterhaus, in dem ein Schwein grunzte. Zur Schlachtzeit im Winter musste das Schlachtfleisch zur Gasanstalt zum Wiegen gefahren werden. Nur ein bestimmtes Gewicht war für den Privatverbrauch zulässig. Das übergewichtige Fleisch war für den Allgemeinverbrauch abzuliefern. Um das Gewicht möglichst niedrig zu halten und eine Abgabe zu vermeiden, wurde dem Gasmeister, der die Bodenwaage bediente, ein Stück Fleisch vom Schlachtvieh in diskreter Verpackung zugesteckt. Bezugschein B war auch hier äußerst wirksam.

Im Übrigen wurde viel Kleinvieh gehalten. Dazu gehörten Kaninchen. Kleine Gehege wurden gezimmert, um das Kleinvieh aussetzen zu können. Beliebt waren die Grasstreifen an den Straßenrändern. Kinder sammelten eifrig Löwenzahn. Zu jener Zeit war der Kaninchenstall kein Streichelzoo. Es gab nur ein Problem. Um eine gute Mahlzeit auf den Tisch zu bekommen, musste geschlachtet werden. Selten war in den Familien jemand dazu fähig und in der Lage. Jetzt waren die mit Schlachtvieh vertrauten Personen gefragt, am besten die damals noch bekannten und gesuchten Hausschlachter. Diese hatten ein doppeltes Gewerbe. Sie waren sommertags Maurer und wintertags Hausschlachter. Die Lebensmittelzuteilungen im Nachkriegsjahr 1945 reichten gerade zum Überleben.

Deutschland stand unter der Kontrolle der Siegermächte und war in vier Zonen aufgeteilt, in die britische, amerikanische, französische und sowjetische. Lübbecke gehörte zur britischen Zone. Die Kleinstadt wurde Zentrum der britischen Zonenverwaltung, der Control Commission for Germany.

Ein Stadtteil wurde unter Militärverwaltung gestellt und mit Stacheldraht eingezäunt. Um diesen Stadtteil, in dem auch die Bahnhofstraße lag, passieren zu können, mussten wir, die nördlich der Bahnstrecke wohnten, am Bahnübergang an der Alsweder Straße warten, bis ein Militärlastwagen uns Wartende abholte.
Während der Durchfahrt waren wir im Ladeteil des Wagens eingesperrt, der nur spärlich vom Tageslicht beleuchtet wurde. Wir saßen in einer Art Dunkelkammer. Diese Art Personentransport wurde bald, da zu umständlich, aufgegeben. Jetzt hieß es warten, bis ein bewaffneter Soldat auftauchte und uns Fußgänger bis zum Eingang Lange Straße begleitete. Der Rückweg vollzog sich nach dem gleichen Muster. Diese Art des begleiteten Fußmarsches wurde gegen Ende des Jahres 1945 aufgegeben. Übrig blieb ein Schilderhaus südlich des beschrankten Bahnübergangs, besetzt mit zwei Wachsoldaten. Mit Rationierungskarten in der Tasche ging es im Stadtzentrum zum Einkaufen. Auch Textilien und Schuhwerk waren rationiert. Von Qualität konnte nicht die Rede sein. Waren von Vorkriegsniveau waren aber verfügbar, wenn man die neue Währung in der Tasche hatte: Tabak oder Zigaretten. Eine Schachtel Zigaretten öffnete viele Türen.

Die allgemeinen bekannten Vergnügungen waren vorerst von der Tagesordnung genommen. Das Lübbecker Kino im Bürgerpark blieb bis auf weiteres für deutsche Filme und Besucher geschlossen. 1945 durften nur Mitglieder der Besatzungsmacht die Vorstellungen besuchen. Englische Produktionen standen auf dem Programm und natürlich Hollywood-Produktionen. Auch öffentliches Tanzvergnügen war gestrichen. Es gab einen Ausweg, indem man das Vergnügen privat gestaltete. Die sogenannten Holskenbälle auf einer Bauernhausdeele waren Attraktionen. Holzschuhe wurden zum allgemeinen Vergnügen nur gelegentlich getragen. Alkohol kam aus privaten Destillen. Der Selbstgebrannte war wiederentdeckt worden.

Im ersten Nachkriegsjahr hielt sich hartnäckig ein Gerücht, das auch unter den britischen Soldaten verbreitet war. Obwohl der Tod des deutschen Diktators festgestellt und bekannt gemacht worden war, war der Glaube verbreitet, dass er mit engen Vertrauten in einem U-Boot nach Südamerika geflohen sei. Eine andere Version hieß, er sei per U-Boot in Richtung Japan abgetaucht. Eine Rückkehr schien nicht unmöglich zu sein. So erhofften es sich jedenfalls seine Anhänger. Wie ich selbst erfahren musste, blieben manche von ihnen ihr Leben lang der NS-Ideologie verhaftet.

1 Heute Kreiskirchenamt, Geistwall 32.

2 Die Höhle ist vermutlich ein Rest der mittelalterlichen Außenbefestigung der Stadt.

3 Autor: Joern Spreen Ledebur.

4 Neue Westfälische, Ausgabe 17. Juni 2019.

5 Die Bezeichnung "Stadtwerke" war damals nicht gebräuchlich.

Lübbecke, im September 2021

Autor: Ehrenbürger Helmut Hüffmann, Illustrationen vom Verfasser 

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