Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
meine Damen und Herren des Stadtrates und der Stadtverwaltung,
verehrte Heimatpfleger, Freunde und Bekannte,
meine Damen und Herren.
Als ich erstmals von der Ehrung erfahren hatte, wurde mir bewusst, dass ich die höchste Ehrung erhalten sollte, die die Stadt Lübbecke zu vergeben hat und die ich hier in tiefer Dankbarkeit annehme. Ich sehe mich geehrt, auch stellvertretend für die Persönlichkeiten, die meine Arbeit in vielen Jahren begleitet haben und mir jede Hilfe zuteil werden ließen. Die jeweiligen Stadträte, alle Bürgermeister und Stadtdirektoren, die ich während meiner Arbeit kennen gelernt habe, unterstützten ohne Wenn und Aber meine Arbeit, wobei das Hauptamt der Stadt der wichtigste Partner war. Posthum gilt mein Dank meinem Lehrer Prof. Dr. Gustav Engel in Bielefeld, mit dem ich jahrelang vertrauensvoll zusammenarbeiten konnte. Hilfreich waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Archivs, die die notwendigen praktischen und systematischen Arbeiten für den Aufbau eines Archivs übernahmen. Schließlich und endlich ist eine solche Arbeit nur mit familiärer Unterstützung möglich. Dafür danke ich meiner lieben Frau.
Aber wo ist der Beginn des jetzigen Archivs zu suchen?
Es war eine Begegnung auf der Langen Straße. Hier sprach mich der ehemalige Bürgermeister Pollheide an und fragte mich vorsichtig, ob ich bereit sei, das städtische Archiv, was immer man darunter verstehen mochte, zu betreuen und zu ordnen. Die Stadtverwaltung hatte meine Publikationen in der Tagespresse zur Kenntnis genommen und war über meine wissenschaftlichen Arbeiten beim Bielefelder Geschichtsverein informiert. Pollheide erhielt nicht sofort meine Zusage. Ich wollte mir erst einmal das Archiv ansehen. Als ich den Raum im Souterrain betrat, glaubte ich in einer großen Abstellkammer gelandet zu sein. Die Akten lagen offen in Regalen, dem Tageslicht schutzlos ausgesetzt. Die meisten davon in Fadenheftung und mit Aktenschwänzen. Weitere Akten lagen im Rathausturm und waren dem Schmutz und der Feuchtigkeit und dem Ungeziefer ausgesetzt. Ich sah sofort, dass hier viel Arbeit auf mich wartete. Ich machte der Verwaltung jedoch klar, dass auf Dauer Hilfskräfte eingestellt werden müssten, um notwendige Arbeiten zu erledigen. Dazu gehörten das Säubern und Entfernen der Metalle sowie das Umlegen der Archivalien in Archivkartons. Schließlich hatte ich als Lehrer an der Lübbecker Realschule noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Durch das Archiv hatte ich einen Vorteil. Ich hatte immer Zugriff auf die neuesten Forschungen in der Geschichte, besonders im regionalen Bereich. Meinen Schülern und Schülerinnen konnte ich dadurch einen direkten Zugang zur Lübbecker Stadtgeschichte auf Quellenbasis ermöglichen.
Obwohl das Hauptamt mich nach Kräften unterstützte, standen andere Teile der Verwaltung der Einrichtung eines Stadtarchivs seinerzeit nicht unbedingt zustimmend gegenüber. „Was sollen wir mit den alten Schwarten?“, hieß es. Diese Haltung hat sich inzwischen grundlegend geändert. Das Archiv machte seit 1972 Akten schnell verfügbar. Langes und lästiges Suchen, das manchen verzweifeln ließ, konnte vermieden werden. Es gab plötzlich Hilfen, wo man suchen könnte. Dankbar wurden die Hilfen angenommen, besonders dann, wenn das Archiv die Nachforschungen komplett übernahm.
Bessere Räumlichkeiten als die, die dem Archiv zunächst im Souterrain des Rathauses zur Verfügung gestanden hatten, waren unumgänglich. Nach dem 1976 erfolgten Umzug der Stadtverwaltung in das ehemalige Gebäude der Kreisverwaltung, erhielt das Stadtarchiv Räumlichkeiten im Dachgeschoss des Alten Rathauses am Markt. Im Erdgeschoss war die Altentagesstätte untergebracht. Im ersten Stockwerk die Stadtbücherei.
Die Bestände des Archivs wurden umfangreicher, die Arbeitsmöglichkeiten beengter. Ich hatte nämlich die Altbestände des Archivs, die 1938 als Depot im Staatsarchiv Münster ausgelagert waren, zurückgefordert. Wichtige Dokumente der Stadtgeschichte wurden zurückgeführt an den Ort, an dem sie produziert worden waren. Dazu gehörten das Stadtbuch, das die wichtigsten Ereignisse zwischen 1400 und 1800 festhält, weiter das Bürgerbuch mit seinen Eintragungen zu den Bürgerrechten und den Tätigkeiten der Schützenmeister und ihrer Helfer. Auch die städtischen Amtsbücher, in denen unter anderem die Aufnahmen in die Bürgerschaft enthalten sind, sowie zahlreiche Akten zu Lübbecker Markenwirtschaft wurden nach Lübbecke zurück geholt - nicht unbedingt zur Freude der Archivverwaltung beim Staatsarchiv in Münster. Zur Erläuterung: Die Mark um Lübbecke war ein großflächiges Gebiet, das von Levern bis Hüllhorst und von Hille bis Börninghausen reichte. Die darin liegenden Weiden, Heideflächen, Moore und Waldungen unterstanden der Kontrolle durch die Lübbecker Stadtverwaltung. Ohne die Lübbecker Mark waren die umliegenden Bauernhöfe nicht wirtschaftsfähig. Sie waren von der Lübbecker Mark abhängig und zinspflichtig an die Lübbecker Stadtkasse. Die genannten Akten konnten beim Stadtbrand von 1705 gerettet werden. Damals stand auch das Rathaus in Flammen. Es gehörte schon der Mut der Verzweiflung dazu, diese Bestände vor den Flammen und für die Nachwelt zu retten.
Während das Archiv im Alten Rathaus untergebracht war, begann sich die Haltung gegenüber dem Archiv zu ändern. Die Verwaltung sah im Allgemeinen das Archiv als eine notwendige Einrichtung, auch wenn es in der Öffentlichkeit immer noch mit düsteren verstaubten Kellergewölben in Verbindung gebracht wurde. Die öffentlichen und privaten Archivführungen räumten mit diesen Vorstellungen gründlich auf. Mancher Besucher war erstaunt über ein geordnetes Archiv in angemessenen Räumen und natürlich über die Hilfen, die ihm angeboten wurden.
Die Räumlichkeiten im Alten Rathaus waren nicht die Lösung auf Dauer, zumal die Belastung der Böden problematisch und der zur Verfügung stehende Platz unzureichend war. Eine Grundsanierung des Alten Rathauses stand an. Für das Archiv wurden Räumlichkeiten in der Schule am Wiehenweg zur Verfügung gestellt. Wohl oder übel - das Archiv musste umziehen. Sorgfältige Planungen waren die Voraussetzung. Hier konnte ich auf die Hilfe von Frau Droste vertrauen, die inzwischen auf meinen Wunsch in die Archivarbeit eingestiegen war. Sie musste sich jetzt zusammen mit Frau Rohlfing, die bereits im Archiv angestellt worden war, mit den Schwierigkeiten eines Umzuges auseinandersetzen. Der Umzug eines Archivs mit einem damaligen Archivbestand von rund zwei Kilometern im Juni 2006 war ein schwieriges Unterfangen. Mit Hilfe einer Spezialfirma konnte der Umzug bewältigt werden. Auch in der Hauptschule traten nach einiger Zeit Probleme auf, die die Archivarbeit erschwerten, nämlich Feuchtigkeit in den Kellerräumen. Dieses Problem wurde mit dem zweiten Umzug aus der Welt geschafft. Der Neubau der Stadtschule erzwang die Einrichtung neuer Räume. Es musste wieder einmal umgezogen werden, und zwar innerhalb des Schulgebäudes in die heutigen Räumlichkeiten im Parterre und im Keller. Das geschah im August 2014. Ob es die vorläufige Endstation ist, weiß der Himmel.
Als ich die Archivleitung 1972 übernahm, hielten sich die Anfragen zunächst in Grenzen. Das Stadtarchiv hatte noch nicht den Ruf, den es heute hat. Dieser Ruf musste erst erarbeitet werden. Familienforschung wurde noch nicht so intensiv wie heute betrieben. Die ersten Prüfungsarbeiten wurden angemeldet. Dazu gehörten zwei Arbeiten für das Lehramt an den Sekundarstufen I und II. Beide beschäftigten sich mit dem Nationalsozialismus. Weitere Arbeiten zu diesem Thema folgten. Hier sind namentlich die Arbeiten zu nennen, die in den Geschichtskursen der Gymnasien und Gesamtschulen verlangt wurden. Die weiterführenden Schulen waren auch mit Praktikanten vertreten, die zum ersten Male mit der praktischen Arbeiten eines Archivs vertraut gemacht wurden. Jetzt hieß es Blattzahlen eintragen und Zeitungen glätten und aufbügeln. Hier stieß man nicht unbedingt auf Gegenliebe der Praktikanten. Viele hatten sich die Arbeit im Archiv anders vorgestellt. Bei der Übertragung von Texten aus der Deutschen Schrift oder Sütterlin in das heute gängige Schriftbild merkten die Praktikanten jedoch, welche Anforderungen außerdem gestellt wurden und dass diese nur mit intensiver Hilfe des Archivs zu bewältigen waren. Hinzu kamen Schwierigkeiten beim Textverständnis.
Hilfen erhielt auch die Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der lokalen jüdischen Geschichte. Neben der steigenden Zahl von Anfragen kamen die ersten Wünsche nach Stadtführungen, die in der Öffentlichkeit anfangs belächelt wurden, wenn ich mit einer Gruppe unterwegs war. „Was hat Lübbecke historisch schon zu bieten?“, hieß es. Hier hat inzwischen ein Umdenken stattgefunden, wie es bis heute die stark nachgefragten Stadtführungen zeigen. Auch die Stadtverwaltung trat mehrfach mit dem Wunsch an mich heran, Gäste aus den Partnerstädten in die Stadtgeschichte einzuführen. Diese Aufgabe konnte ich inzwischen an die Stadtführer abgeben, die von meiner Nachfolgerin, Frau Christel Droste, intensiv betreut werden. Schließlich setzen Stadtführungen ein gründliches Wissen voraus, das erst erarbeitet werden muss.
Wie sieht es nun mit meiner Arbeit zu stadtgeschichtlichen Aufarbeitung aus?
Ich bin noch täglich im Stadtarchiv tätig, wo meine Hauptaufgabe die Fortschreibung der Stadtchronik und die Aufarbeitung der Stadtgeschichte im Bereich Mittelalter und frühe Neuzeit ist. Inzwischen konnte ich meine Arbeit zu den gerichtlichen Verhältnissen der Stadt im 17. Jahrhundert weitgehend abschließen. Hier möchte ich einen kurzen Einblick geben:
Lübbecke besaß im Mittelalter und der frühen Neuzeit eine unbeschränkte Gerichtsbarkeit, die unter preußischer Verwaltung eingeschränkt und der obrigkeitlichen Verwaltung untergeordnet wurde. Die Stadt besaß einmal die jurisdictionem altam et bassam, die hohe und die niedere Gerichtsbarkeit. Grundstücksangelegenheiten wurden vor dem Stadtgericht ebenso abgehandelt wie Kapitalverbrechen. Der Galgen vor dem Westertor im Bereich des heutigen Gallenkampes war das äußere Symbol.
Als Lübbecke 1279 zur Stadt erhoben wurde, erhielt sie Mindener Stadtrecht, das vom Dortmunter Recht abgeleitet war. Bei strittigen Rechtsfragen wandte man sich an die Stadt Minden und bat um Rechtshilfe. Minden legte solche Fälle dem Dortmunder Stadtrat vor. Dortmund war in strittigen Fällen die letzte Instanz, der Oberhof. Das änderte sich erst mit der Einrichtung des Reichskammergerichts im Jahre 1495.
Die Lübbecker Stadträte waren gleichzeitig Schöffen am Lübbecker Stadtgericht. Es gab folgende wiederkehrende Situation: Eine Ratssitzung konnte unmittelbar in eine Gerichtssitzung übergehen. Das Ratsgestühl war gleichzeitig der Schöppenstuhl, das Gestühl der Schöffen.
Bei der Durchsicht eines Lübbecker Amtsbuches aus der Zeit von 1628 bis 1653 stieß ich auf die sogenannten Geburtsbriefe. Es waren Dokumente und keine Briefe im heutigen Sinne. So ein Brief erscheint gelegentlich auch unter der Bezeichnung testimonium natale. Die Geburtsbriefe gehörten zur bürgerlichen Wanderungsbewegung. Wollte z. B. ein Bürger Lübbecke verlassen, um in einer anderen Stadt sein Glück zu versuchen, musste er am neuen Ort den Geburtsbrief vorlegen. Nicht nur Lübbecker Bürger wurden mit der Bitte um Ausstellung eines Geburtsbriefes im Rathaus vorstellig, sondern auch Bewohner aus den umliegenden Dörfen. Voraussetzung war, dass die Bewerber freien Standes und nicht Hörige einer Gutsherrschaft waren.
Der Geburtsbrief bestätigte die eheliche Geburt unter Nennung der Namen und Herkunft der Eltern, wobei die Mutter immer unter ihrem Mädchennamen erschien. Drei Männer, namentlich aufgeführt, waren aufzubieten, um die Angaben des Antragsstellers unter Eid zu bezeugen. Die Zeugen wurden auf die Folgen eines Meineides hingewiesen, häufig protokolliert mit der Bemerkung praevia avisatione perjurii. Die Geburtsbriefe und die Protokolle sind mit lateinischen Floskeln durchsetzt. Sie stammen aus dem Sprachgebrauch der damaligen Beamten. Wegen der vielen protokollierten Namen sind die Geburtsbriefe eine Fundgrube für die genealogische Forschung.
Hier ein Beispiel eines Geburtsbriefes: Am 18. August 1650 erschien Heinrich Pollheide, ein Schneidergeselle aus Alswede, im Rathaus und bat um die Ausstellung eines Geburtsbriefes. Pollheide hatte die Absicht, sich in Minden niederzulassen. Dort hoffte er, bessere Arbeitsbedingungen zu finden, als in Lübbecke oder auf dem Dorfe. Pollheide legte den geforderten Freibrief vor, ausgestellt von Rittmeister Johann Münch zu Ellerburg. Zwei Zeugen, die seine eheliche Geburt beeiden sollten, kamen aus Alswede. Als dritter Zeuge stellte sich Stadtrichter Peter Riestenpatt zur Verfügung. Sie bezeugten die christliche Geburt des Antragsstellers unter Nennung der Namen seiner Eltern, nämlich Johann Pollheide und Geseke Wächter. Beide waren Hörige im Gutsverband Ellerburg.
Der Hinweis auf die christliche Herkunft der Antragsteller wird häufig mit deutlichen Worten notiert. So heißt es im Geburtsbrief des Johann Flörking am 14. Dezember 1638, dass Flörking im heiligen Ehestand alhir in Lübbecke geboren und erzeuget wäre. Und dass noch gute Leute leben so seine beiden seligen Eltern wohl gekannt.
Auch bei Eheschließungen konnte ein Geburtsbrief verlangt werden, wenn die Frau außerhalb ihres Ortes oder Stadt heiraten wollte. Frauen waren nicht voll gerichtsfähig. Sie brauchten einen curator. Als Rechtsvertreter der Frau stellte dieser den Antrag. So bat Christian Scheedtmann aus Gerenbeke im Amt Hausberge am 16. Oktober 1645 um die Ausstellung eines Briefes für seine Schwester Anne so sich zu herfordt ins schüsteramt befreiete. Sie wollte einen Schuhmacher aus Herford heiraten. Das Schusteramt bestand auf Vorlage eines Geburtsbriefes. Die Handwerksämter legten generell Wert darauf, dass die Frauen ihrer Mitglieder aus einer achtbaren christlichen Familie stammten. Das galt im Übrigen auch für die Aufnahme von Lehrlingen. Uneheliche Kinder hatten absolut keine Chance, in das ehrbare Handwerk einzutreten.
Anzumerken bleibt noch, dass die Lehrlinge keine Entlohnung bekamen. Im Gegenteil, der Lehrherr oder Meister verlangte eine Bezahlung für seine Leistungen. Dazu gehörten Unterricht und Beköstigung im Hause des Lehrherrn, wo der Lehrling gewöhnlich auch seine Schlafstelle hatte. Zimperlich wurde mit den Lehrlingen nicht umgegangen. In einem Gerichtsverfahren vom 6. Juli 1643 beschwerte sich ein Lehrling, ein Waise, vertreten vor dem Stadtgericht durch seine Vormünder, dass er bei seinem Lehrherrn, einem Schneider, so gut wie nichts gelernt habe. So habe er statt in der Werkstatt zu sitzen und zu arbeiten, auf dem Felde die Ochsen antreiben müssen. Bei der Gelegenheit erfährt man auch, dass das Lehrgeld aus dem Erbe des Lehrlings bestritten wurde.
Bei den Geburtsbriefen stößt man auch auf das Thema Auswanderung. Hier ist natürlich nicht die klassische Auswanderung nach Amerika gemeint, sondern die ins Baltikum und in die skandinavischen Länder. Hier war das deutsche Viertel in Bergen in Norwegen beliebt. Heute haben Sie wieder eine ähnliche Situation, besonders in Mecklenburg-Vorpommern, nämlich die Abwanderung nach Schweden.
So erschien am 19. Februar 1639 Barthold Lohmann im Rathaus, um für seinen Sohn Hinrich, einen Kramergesellen, einen Geburtsbrief zu beantragen. Hinrich war entschlossen, sich in Reval in Livland niederzulassen. Er war 28 Jahre alt und zu Jacobi geboren. Der Jakobstag ist der 25. Juli. Drei freie Männer aus Dünne waren aufgeboten worden, um die eheliche Geburt des Hinrich Lohmann zu bezeugen. Zum Personenstand erfährt man, dass Hinrichs Mutter Anna Grundmann aus Dünne (Kirchspiel Bünde) im mindischen Amt Reineberg stammte. Man darf vermuten, dass die Kaufleute weitgespannte Beziehungen unterhielten, um für ihre Söhne und Gesellen beruflich sorgen zu können.
Auch persönliche Schicksale finden ihren Niederschlag in den Briefen. Am 28. September 1642 erschien Hinrich Heidenreich im Rathaus, ein Schneidergeselle, gebürtig aus Quernheim, und bat um die Ausstellung eines Geburtsbriefes. Hinrich wollte nach Schweden auswandern. Er hatte jedoch Pech. Auf der Überfahrt kam es zu einem Schiffbruch. Hinrich kam mit dem Leben davon. Seine Habseligkeiten samt Geburtsbrief wurden von den Fluten weggespült. In Schweden angekommen, benachrichtigte er seinen Bruder und bat ihn, im Lübbecker Rathaus vorstellig zu werden, weil ein neuer Geburtsbrief dringend benötigt wurde. Dieser wurde am 6. April 1643 gebührenfrei ausgestellt.
Eine Reihe von Auseinandersetzungen unter Bürgern wurden vor dem Stadtgericht ausgetragen. Schulden waren häufig der Grund. Die Kontributionen, die Sonderforderungen der jeweiligen Besatzungsmacht während des Dreißigjährigen Krieges, hatten die finanziellen Verhältnisse aus dem Ruder laufen lassen. Da keine Bank zur Verfügung stand, hatten Kaufleute die Chance erkannt und beteiligten sich als Geldverleiher. Im Übrigen war es üblich, dass Privatleute sich untereinander mit Geld aushalfen. Blieb die Rückzahlung aus, konnte es zu harten persönlichen Auseinandersetzungen kommen, die schließlich vor dem Stadtgericht endeten.
So ein Fall stand am 8. Juni 1637 an. Es ging um eine Geldforderung. Herbert Bersickloh hatte Menß [Hermann] Becker verklagt. Darüber war es in Beckers Haus zu Handgreiflichkeiten gekommen. Becker hatte seinen Herausforderer einen Daumendreyer und Suppenfresser gescholten. Becker stritt das vor Gericht ab und schob seiner Frau die beleidigenden Worte zu. Als Bersickloh ihn einen Schelm genannt habe, so Becker, sei es zu Handgreiflichkeiten gekommen, wobei er, Becker, zum Spieß gegriffen habe, denn in seinem eigenen Hause lasse er sich nicht beleidigen. Beckers Frau mischte sich ein und nannte den Kläger einen Schelm. Jemand einen Schelm zu nennen, war eine der übelsten Beschimpfungen jener Zeit. Der Beleidigte war mit einem notorischen Lügner und Betrüger gleichgestellt. Das Gericht konnte bei den widersprüchlichen Aussagen keinen Schuldigen ausmachen und verordnete eine Bedenkzeit von 14 Tagen. Die beiden Kontrahenten zogen es vor, sich zu einigen. Das geschah gewöhnlich, wie aus anderen Fällen bekannt, stipulata manu. Man reichte sich die Hände und versprach, Frieden zu halten und (über)einander nur Gutes zu sagen.
Ein Fall mit fatalen Folgen wurde am 17. Juni 1646 verhandelt. Während der Wache auf der Stadtmauer war der Bürger Toite mit seinem Kameraden in Streit geraten und hatte ihm ein kräftige Ohrfeige verpasst. Der Angegriffene erhielt tatkräftige Hilfe. Toite wurde blau und blutig geschlagen. Das Schlimmte war, dass einer der Helfer mit Namen Tyleking den Verletzten einen Hexenbruer genannt hatte, d. h. einen Zauberer, der den Hexentrank zusammenrührt. Das konnte der Beleidigte nicht auf sich sitzen lassen. Unabsehbare Folgen waren möglich. Toite verlangte eine gerichtliche Klärung. Tyleking wies alle Schuld von sich. Es wurden weitere Zeugen verhört, wobei sich herausstellte, dass Alkohol im Spiel gewesen war. Es gab widersprüchliche Aussagen. Das Gericht kam zu keinem Urteil. Die Verhandlung wurde am 5. November 1646 fortgesetzt. Tyleking behauptete, sich nicht erinnern zu können, weil er während des Vorfalls betrunken gewesen sei. Inzwischen war der Fall zu einem Nachbarschaftsstreit geworden, in den sich die Frauen eingemischt hatten. Der Fall stand am 3. Dezember 1646 erneut vor Gericht. Toite vertrat seine Frau, die sich auch beleidigt gefühlt hatte. Tyleking war inzwischen in Haft genommen worden, weil er trotz eindeutiger Beweislage nicht willens war, die Beleidigung zurück zu nehmen. Er wollte sogar als Beweis seiner Unschuld, die Wasserprobe auf sich nehmen, um ein Gottesurteil herbeizuführen. Das Gericht lehnte ab, weil Tyleking bei dem Vorfall betrunken gewesen war. Bei einer Wasserprobe wurde der Beschuldigte unter Wasser getaucht. Blieb er unter der Wasseroberfläche, hatte das reine Wasser ihn angenommen und er war unschuldig. Tauchte er wieder auf, hatte das Wasser ihn abgestoßen und er war schuldig. Vereinfacht gesagt: Als überführt galt, wer nicht unterging. Diese Prozedur wurde im Stadtgraben vollzogen, etwa an der Stelle, wo heute der Graben geöffnet ist, also nördlich der Franz-Welschof-Straße. Wer als überführt galt, den erwartete die Todesstrafe, sei es durch Feuer oder durch das Schwert.
Toite verlangte die Rücknahme der Beschuldigung. Das Gericht wollte einen langen Prozess vermeiden und wies beide Parteien auf die Kosten und Unwägbarkeiten hin, falls der Prozess fortgesetzt würde. Es drängte auf einen gütlichen Vergleich, der auch erreicht wurde. Tyleking räumte ein, dass eine Beleidigung nicht beabsichtigt gewesen sei, allein der ihm zugefügte Schmerz habe ihn gerechterweise zur Gegenwehr getrieben. Er reichte Toites Frau die Hand mit den Worten, dass er von ihr nichts als eher Liebes und Gutes zu sagen wüsste, auch die vorigen scheltworte aus Trunkenheit als auch Eifer und Zorn geredet. Per Handschlag versöhnte er sich mit ihrem Mann. Auch die Frauen reichten sich die Hände. Das Gericht ermahnte sie, künftig Streit zu vermeiden und gute Nachbarschaft zu halten.
Die wirtschaftlich äußerst schwierigen Zeiten während des Dreißigjährigen Krieges werden in den Protokollen persönlich sichtbar. So bemühte sich ein Bauer aus Twiehausen nach Lübbecke, um sein Pferd wieder zurück zu bekommen. Es war ihm von den Schweden vor dem Pflug weggenommen worden, dann verkauft worden und nach etlichen Verkäufen in Lübbecke aufgetaucht. Wer ein gutes Pferd besaß, konnte nie sicher sein, ob er es in seinem Stall behalten konnte.
Auch in Lübbecke gab es Situationen, die den Unsinn eines Krieges aufzeigten. Ein Symbol dafür war das in die Geschichtsschreibung eingegangene Lübbecker Kartell, das am 12. August 1633 in Lübbecke im Rathaus zwischen den Schweden und den Kaiserlichen ausgehandelt worden war. Mit Kartell ist hier ein Vertrag unter den Kriegsparteien gemeint. Preise für den Freikauf von Gefangenen wurden ausgehandelt. Übergriffe des Militärs wurden unter Strafe gestellt. Das Kartell war praktisch wirkungslos. Der Krieg hatte seine eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt. Stadtsekretär Pohlmann notierte dazu im Stadtbuch, dass die Gesandten es sich auf Kosten der verarmten Bürgerschaft bei Essen und Trinken gut gehen ließen und schreibt, dass sie weitlich gesoffen hätten. Mit anderen Worten: Freund und Feind hatten sich nicht nur zu Verhandlungen, sondern auch zu einem Zechgelage in Lübbecke zusammengefunden.
Zum Friedensschluss von 1648 notiert der Stadtsekretär die Worte:
„Besser ist Friede mit Gefährlichkeit
Als Krieg mit eitel Gerechtigkeit.“
Es ist ein Satz, der in der heutigen Situation nichts an Bedeutung verloren hat.
Lübbecke, den 24.07.2015