Von Stadtchronist Helmut Hüffmann
Der Fall der Lueke Falck
Das Gericht der Stadt Lübbecke, erstmals erwähnt für das Jahr 1298[1], setzte sich aus den Mitgliedern des Stadtrates zusammen, die als Schöffen zur Urteilsfindung beitrugen. Die juristische Beratung erfolgte durch den Stadtrichter, der vom Landesherrn, dem Bischof von Minden, bestätigt worden war. Gerichtsprotokolle, sofern im Stadtarchiv Lübbecke in zwei Amtsbüchern überliefert, beginnen mit dem Jahre 1628 und schließen 1670.[2]
Am 27. Februar und 12. März 1630 befasste sich das Lübbecker Stadtgericht mit einer Unterhaltsklage.[3] Klägerin war Lueke Falck, Johann Loses Witwe. Nach Gewohnheit der Zeit erscheint sie unter ihrem Mädchennamen. Da Frauen nicht voll gerichtsfähig waren, musste eine männliche Person als Rechtsvertreter, Kurator, bestellt werden. Als Kurator der Lueke Falck, war Johann Stahl bestellt worden. Beklagter war Johann Brant, der nach dem Tode seiner Frau die Klägerin beschlafen und geschwengert, sich jedoch geweigert hatte, sie zu heiraten. Er hatte Lueke mit dem Kinde sitzen laßen und eine andere geheiratet. Lueke erklärte, dass sie von dem Beklagten nicht unterstützt worden sei. Darüber kam es wegen der verletzten Ehre und der nicht geleisteten Unterhaltspflicht zum Streit, der schließlich vor dem Lübbecker Stadtgericht ausgetragen wurde.
Lueke Falck hatte Johann Brant auf Unterhalt verklagt. Sie verlangte eine angemessene Unterstützung, wie es nach Sachsen Recht[4] üblich sei, kodifiziert im Sachsenspiegel. Sie konnte „wegen Ihrer kundigen armuth“ auf eine Unterstützung nicht verzichten. Damit ist auch gesagt, dass sie der unteren Bürgerklasse angehörte. Es kam zu einem Vergleich, der stipulata manu, also mit Handschlag, zwischen Brant und Stahl, bekräftigt wurde. Brant wurde zur Zahlung der beträchtlichen Summe von 50 Rtlr (Reichstaler) an Lueke Falck verurteilt. Auf Nachfrage erklärten sich der Kurator und seine Mandantin mit dem Gerichtsbeschluss einverstanden und versprachen, in Zukunft keine weiteren Forderungen mehr zu stellen. Ratenzahlungen wurden vereinbart. Sie sahen vor, 10 Rtlr innerhalb von acht Tagen zu zahlen. Uf Michaelis, dem 29. September, waren 20 Rtlr zu zahlen. Der Rest wurde zu Ostern im kommenden Jahr fällig. Brant verpflichtete sich, das Kind zu sich zu nehmen, sobald es von der Mutter nicht mehr gestillt wurde, und versprach, wie ein Vater für das Kind zu sorgen. Sollte die Mutter die Übergabe verweigern, dann war der Anspruch auf Unterhalt erloschen.
Der Fehltritt war zu einem teuren Vergnügen geworden. Die Strafe traf den Beklagten an seiner empfindlichsten Stelle, an seinem Geldbeutel. Das Gericht stellte eine hohe Strafgebühr in Aussicht, falls die Mutter oder der Vater erneut über das Sorgerecht mit worten oder wercken in Streit geraten sollten. In einem solchen Fall sah das Gericht vorab eine Strafe von 20 Rtlr vor. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass Rechthaberei vor dem Gericht keine Chance hatte und ein christlicher Lebenswandel die Richtschnur war.
Über den Fall hinaus gab es für die Eltern die subtilen Kirchenstrafen wie öffentliche Reuebekenntnisse. Die Kinder trugen für immer den Makel der unehelichen Geburt. Ein Vormund blieb ihnen versagt.[5] Ein Geburtsbrief konnte später wegen des Makels nicht ausgestellt werden. Damit war es ihnen auch verwehrt, eine Lehrstelle als Handwerker anzutreten, oder das Bürgerrecht in einer anderen Stadt zu erwerben.[6]
Vormundschaften vor Gericht
Sobald der Ehemann verstorben war und Kinder hinterlassen hatte, traten von der Stadtverwaltung verordnete Vormünder an seine Stelle. Zum Vormund bestellte die Verwaltung Männer, die einen guten Leumund hatten und in der Bürgerschaft angesehen waren. Gewöhnlich waren zwei oder drei Männer aufzubieten, die darauf zu achten hatten, dass ihre Mündel, die pupillen, nicht zurückgesetzt oder in ihren rechtlichen Ansprüchen beschädigt wurden. Die Vormünder mussten sich verpflichten, die ihnen anvertrauten Vermögen ihrer Mündel nicht zum eigenen Vorteil zu missbrauchen.
Am 11. März 1653 wurden Hermann von Bieren, Christoph Bante und Heinrich auf der Beke ins Rathaus gebeten, um die Vormundschaft für eine Kinderschar zu übernehmen, die Gerd Toite hintelassen hatte. Unter Eid versprachen die Vormünder, der Kinder bestes zu thuen. Töchter, nach damaliger Meinung schutzbedürftig, blieben ihr Leben lang unter Vormundschaft, sei es unter der des Vaters, des Vormundes oder des Ehemannes.
Es stand den Vormündern frei, auch erzieherisch einzugreifen. Bei einer Verfehlung des Mündels wurden sie zur Rechenschaft gezogen. Der Vormund, auch curator oder tutor genannt, war Vaterersatz. So verspricht ein Vormund bei seiner Bestallung am 17. August 1638, er würde sein Amt stat eines vaters[7] wahrnehmen. Die Vormünder waren auch für den beruflichen Werdegang ihres Mündels verantwortlich. Sie hatten dafür zu sorgen, dass eine Lehre angetreten wurde. Eine Lehrstelle war mit Kosten verbunden. Der Unterricht sowie Versorgung und Unterbringung im Hause des Lehrherren waren mit Kosten verbunden. Ein kleines Vermögen war Voraussetzung, um eine Lehrstelle antreten zu können. Das notwendige Geld wurde aus dem Erbteil des Mündels bestritten. War Bargeld nicht ausreichend vorhanden, dann war eine andere Form der Vergütung möglich. So konnte Ackerland aus dem Erbgut des Mündels zur Verfügung gestellt werden.
Den Lübbecker Protokollen sind keine Hinweise zu entnehmen, ab wann das Mündel als volljährig angesehen wurde.[8] Bezeichnend heißt es in einer Auseinandersetzung zwischen Vormund und Lehrherrn eines Mündels im Protokoll vom 6. Juli 1643, dass Ihr pupil schon so groß das er sein eigen bestes wüste[9]. Es fehlt die Altersangabe. Es lag im Ermessen des Gerichts, das Mündel wie einen Erwachsenen wahrzunehmen. Entscheidend wird die körperliche Konstitution gewesen sein, die auch im Sachsenspiegel Erwähnung findet. Eine Bildleiste im Oldenburger Sachsenspiegel zeigt einen Mann, der mit dem Zeigefinger auf seine behaarte Achsel zeigt. Bart und Achselbehaarung galten demnach als Zeichen der Volljährigkeit, wenn das Alter nicht bekannt war.[10]
Es ging in dem am 6. Juli 1643 verhandelten Fall um den Lehrjungen Jobst Feger, der sich bei seinen drei Vormündern, den Bürgern Wullen, Thane und Toite, beklagt hatte, von seinem Lehrherren, dem Schneider Kleffmann, nur ungenügend im Handwerk unterrichtet worden zu sein.[11] Stattdessen habe ihn der Meister zu alltäglichen Arbeiten herangezogen. So habe er die vor den Pflug gespannten Ochsen auf dem Felde antreiben müssen. Im Schneiderhandwerk sei er nur unzureichend unterrichtet worden.
Die Vormünder nahmen sich der Klage ihres Mündels an und brachten den Fall vor Gericht. Es ging um die Rückforderung des Lehrgeldes. Lehrherr Kleffmann gab vor Gericht zu, den Jungen zur Feldarbeit herangezogen zu haben, bestritt jedoch, seinem Lehrauftrag nicht nachgekommen zu sein und war nicht bereit, Lehrgeld zurückzuzahlen. Die Übergabe des Lehrjungen an einen anderen Lehrherrn lehnte Kleffmann vehement ab, weil er den Entzug des Lehrgeldes befürchtete. Das Gericht setzte für den 13. Juli 1643 einen zweiten Termin an.[12] Lehrherr Kleffmann bestand weiter auf eine vollständige Zahlung des Lehrgeldes. Dieser Forderung kam das Gericht jedoch nicht nach. Schließlich einigte man sich auf 18 Rtlr, die dem Lehrherrn zugesprochen, aber nicht ausgezahlt wurden. Damit war der anfangs vereinbarte Betrag von 23 Rtlr deutlich unterschritten. Kleffmann musst eine Einbuße hinnehmen. Der Schneidermeister durfte statt einer Auszahlung über zwei Scheffel Ackerland aus dem Erbe des Mündels, das ihm bereits statt einer Bezahlung zugesprochen worden war, weiterhin so lange verfügen, bis der ausstehende Betrag abgegolten war.
Lübbecke, 8. März 2017
[1] Westfälisches Urkundenbuch, Nr. 1617.
[2] Stadtarchiv Lübbecke (zit. StadtAL), A 128 und A 165.
[3] StadtAL, A 128., Bl. 92´.
[4] Ebd., Bl. 89.
[5] Der Oldenburger Sachsenspiegel, Codex picturatus Oldenburgensis Cim I 410 der Landesbibliothek Oldenburg, Bl. 25´, § XXV, Graz 2006. Werner Peters und Wolfgang Wallbraun: Text und Übersetzung, S. 61.
[6] StadtAL, A 513, Bl. 62.
[7] Wie Anm. 3, Bl. 237´.
[8] Wie Anm. 5, Bl. 24, § XVI. Text und Übersetzung, S. 58: Nach einundzwanzig Jahren ist der Mann zu seinen Tagen gekommen.
[9] Wie Anm. 3, Bl. 311´.
[10] Wie Anm. 5, Bl. 24´.
[11] Wie Anm. 3, Bl. 311´f.
[12] Ebd., Bl. 313.