Stadt Lübbecke

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Streit auf der Stadtmauer

Die Stadt Lübbecke besaß ursprünglich die volle Gerichtsbarkeit, die sie selbständig unter Mithilfe eines Juristen, des Stadtrichters, wahrnahm. In den Protokollen aus dem 17. Jahrhundert sind auch Fälle überliefert, die sich mit der bürgerlichen Verteidigunspflicht befassen. Dazu gehörte die regelmäßige Begehung der Stadtmauer über den Wehrgang mit der Pflicht, das Vorfeld der Stadt zu überwachen.

Obwohl die Stadtmauer nach dem Überfall der Dänen zu Pfingsten 1627 im militärischen Sinne keinen Schutz mehr bot[1], war der Wachdienst auf der Mauer nach wie vor Bürgerpflicht. Auf jeden Fall bot der Festungsring noch genügend Schutz, um sich vor Räuberbanden zu schützen. Das Wacheschieben war nicht jedermanns Sache. Langeweile kam auf. Ein böses Wort, eine Beleidigung genügten, um Handgreiflichkeiten auszulösen, besonders dann, wenn Alkohol im Spiel war.

So ein Fall wurde am 12. März 1629 vor Gericht verhandelt. Cord Volmerding hatte gegen Alert Hanenkamp[2], seinen Rottmeister[3], Klage wegen körperlicher Verletzung erhoben. Nach Aussage von Volmerding hatte Hanenkamp die Wache auf der Stadtmauer verlassen und „sich so doll folgesoffen“, dass Volmerding ihm nach der Rückkehr Vorhaltungen mit den Worten gemacht, dass es „Ihme nicht gebuhre Von der wacht Zu gehen und die Stadtgesellen allein Zu laßen“. Das war für Hanenkamp Vorwurf genug, um auf Volmerding einzuschlagen. Er habe, wie es im Protokoll heißt, „Vom ledder gezogen“. Volmerding versuchte, sich zu verteidigen, wurde aber gegen einen Stein gestoßen, fiel zu Boden und wurde unter den Schlägen Hanenkamps so stark verletzt, dass er wochenlang das Bett hüten musste. Kläger Volmerding verlangte die Erstattung aller Kosten, die ihm durch Krankheit und Arbeitsausfall entstanden waren, insgesamt wenigstens 50 Rtlr (Reichstaler). Aus Hanenkamps Sicht stellte sich der Vorfall vollkommen anders dar. Er war der Angegriffene und hatte in Notwehr gehandelt. Hanenkamp bat um Abschrift der Anklage und um Zeit, seine Version dem Gericht erneut vorzutragen.

Die Verhandlung wurde am 19. März fortgesetzt. Hanenkamp wies Volmerdings Anklage zurück und erklärte sich für unschuldig, weil er in Notwehr gehandelt habe, was Volmerding bestritt. Der Fall wurde nochmals vertagt.

Bei der nächsten Verhandlung am 26. März 1629 bestand Volmerding weiter auf seiner Forderung. Hanenkamp jedoch beharrte darauf, in berechtigter Notwehr gehandelt zu haben, „quod vim vi repellere liceat“[4], wie es im Protokoll heißt. Das sei er, so Hanenkamp, seinem guten Namen schuldig gewesen. Hanenkamp hatte sich also beleidigt gefühlt und war handgreiflich geworden, was er als sein Recht sah, wobei er sich auf die beiden Zeugen Cord von Wullen und Christoff Wempener berief. Wer den Streit provoziert hatte, war von ihnen nicht zu erfahren gewesen.

Am 12. November 1629 wurde der Fall erneut verhandelt. Die Tat , dass Volmerding „uf der wacht jamerlich verwundet“ worden, war nicht zu bestreiten. Wie Volmerding aussagte, sei er bereit gewesen, sich mit Hanenkamp zu vergleichen. Dieser habe sich jedoch in Ausreden geflüchtet. Hanenkamp bat das Gericht um einen Terminaufschub von 8 Tagen, der auch gewährt wurde. Sollte Hanenkamp dem Termin nicht nachkommen, so das Gericht, würde er vom Verfahren ausgeschlossen. Ein Protokoll zu dem angesagten Termin ist nicht verzeichnet. Offenbar war Hanenkamp dem Termin ferngeblieben. Der Fall wird ohne weitere Anhörung zu Ende gebracht worden sein. Bei allen Terminen war die Pflichtverletzung Hanenkamps, die Wache verlassen zu haben, unerheblich gewesen und blieb ungesühnt. Eine Klage aus den Reihen der Bürgerwehr hatte nicht vorgelegen.

Ein Fall mit fatalen Folgen wurde am 17. Juni 1646 verhandelt. Kläger war Dietrich (Direk) Toite, Beklagter Tewes Tyleking. Während der Mauerwache war Toite mit seinem Kameraden Linenwefer in Streit geraten war und hatte ihm eine kräftige Ohrfeige[5] verpasst Jost Klostermann, Halbbruder von Linenwefer, und Tewes Tyleking waren hinzugekommen, um für Linenwefer Partei zu ergreifen. Sie hatten Toite „blau und blutig“ geschlagen. Erschwerend kam hinzu, dass Tyleking den Kläger einen „hexen bruer“[6] genannt hatte. Die Schläge konnte Toite noch hinnehmen, aber die beleidigende Anschuldigung war nicht hinnehmbar, weil sie unabsehbare Folgen haben konnte. Der Fall kam vor Gericht. Es ging jetzt nicht mehr darum, wer den Streit angefangen und wer Prügel bezogen hatte, sondern ob Toite beschuldigt worden war, ein „hexen bruer“ zu sein. Toite bestand auf einer gerichtlichen Klärung. Tyleking wies alle Schuld von sich.

Es wurden weitere Zeugen gehört. Dabei stellte sich heraus, dass Alkohol im Spiel gewesen war. Das wurde in einer nachfolgenden Verhandlung am 5. November 1646 bestätigt. Tyleking behauptete, sich nicht erinnern zu können, weil er während des Vorfalles betrunken gewesen sei.[7] Inzwischen war der Fall zu einem Nachbarschaftsstreit geworden, in den sich auch die Frauen der Kontrahenten eingemischt hatten. Der Fall stand am 3. Dezember 1646 erneut vor Gericht. Jetzt war Toite „nomine uxorio“ erschienen. Er vertrat also seine Frau, die sich auch beleidigt fühlte. Tewes Tyleking war inzwischen in Haft genommen worden, weil er trotz eindeutiger Beweislage nicht geständig war, die schwer wiegende Beleidigung ausgesprochen zu haben, und auch nicht willens war, sie zurückzunehmen.

Tyleking wollte zum Beweis seiner Unschuld sogar die Wasserprobe[8] auf sich nehmen, um so ein Gottesurteil herbeizuführen. Das Gericht war sich der Sinnlosigkeit dieses Verfahrens bewusst und lehnte ein Wasserurteil ab. Schließlich war Tyleking während des Vorfalls betrunken gewesen. Der Prozess wurde am 24. Februar 1647 fortgesetzt. Toite bestand weiter auf seiner Forderung. Er verlangte die Rücknahme der Beschuldigung. Das Gericht wollte auf jeden Fall einen langen Prozess vermeiden und wies beide Parteien auf die Kosten und Unwägbarkeiten hin, falls der Prozess fortgesetzt würde, und drängte auf einen gütlichen Vergleich. Tyleking räumte endlich ein, „keineß weges aber solches animo injuriandi, sondern allein ex justo dolore ad retorquendum“ gehandelt zu haben. Eine Beleidigung war seiner Aussage nach nicht beabsichtigt gewesen, sondern allein der ihm zugefügte Schmerz hatte ihn gerechterweise zur Gegenwehr getrieben. Er reichte Toites Frau die Hand zur Versöhnung und sagte, „daß Er von Ihr nichts alß ehr Liebes und guteß Zu sagen wüste, auch die Vorigen scheltworte auß Trunckenheit. Alß auch eifer und Zorn geredt.“ Per Handschlag versöhnte er sich mit ihrem Mann. Auch die Frauen reichten sich die Hände. Das Gericht ermahnte sie, künftig Streit zu vermeiden und gute Nachbarschaft zu halten. 

Lübbecke, 5. Mai 2017, Autor: Stadtchronist Helmut Hüffmann, Illustration vom Verfasser



[1] Helmut Hüffmann, Der dänische Überfall auf die Stadt Lübbecke im Jahre 1627 und die Grappendorfschen Forderungen. In: 89. Jahresbericht des Hist. Vereins für die Grafschaft Ravensberg (zit.: JBHVR), Jg. 2004, S. 113 – 135.

[2] Heinrich Hanenkamp im Bürgerbuch in der ersten Aufnahme von 1608 verzeichnet. Name bei der Revision von 1647 nicht geändert. Heinrich Vater von Alert? Stadtarchiv Lübbecke (zit.: StadtAL), Bürgerbuch, S. 28,Nr. 59.

[3] Die Bewachung des Festungsringes war in Rotten eingeteilt, denen Rottmeister vorstanden. Helmut Hüffmann, Bruchherren, Vierziger und das Bürgerbuch der Stadt Lübbecke. In: 97. JBHVR, Jg. 2012, S. 127.

[4] Römischer Rechtsgrundsatz, dass Gewalt durch Gewalt abgewehrt werden darf.

[5] StadtAL, A 128, Bl. 380´. Ebd. heißt es an den halß geschlagen. Das ist nicht wörtlich gemeint. Heute noch sprachlich gegenwärtig mit einen an den Hals kriegen.

[6] Brauer eines Hexentranks.

[7] StadtAL, A 128, Bl. 388´.

[8] Blieb der Beschuldigte unter Wasser, dann war er unschuldig, weil ihn das reine Wasser behalten hatte. Anderenfalls war er schuldig.

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