Von Stadtchronist Helmut Hüffmann
Aus den Protokollen des Lübbecker Stadtgerichts, Teil 2
Lübbecke . Wiederholt wird in den Protokollen des Lübbecker Stadtgerichtes aus dem 17. Jahrhundert auf die Schäden hingewiesen, die der Dreißigjährige Krieg verursacht hatte, sei es, dass Häuser und Gärten verwüstet waren oder Erpressung und Raub die Existenz bedrohten. Waren Scheune und Keller halbwegs gefüllt, dann sorgte die nächste Besatzung dafür, dass sie wieder geleert wurden. Eine üble Nachlassenschaft der Besatzer waren die durch schweres Kriegsgerät ruinierten Straßen. Die Bürger hatten nicht nur Hand- und Spanndienste zur Ausbesserung der Straßen zu leisten, sondern zusätzliche Beiträge zur Wegebesserungskasse. Hinzu kamen die ständigen rücksichtslosen Forderungen der jeweils herrschenden Besatzungsmacht, die vor Erpressung und Geiselnahme nicht zurückschreckte.
Furcht und Angst kamen auf, sobald Ansteckungsgefahr durch Pestkranke drohte wie im Jahre 1626, als Bürger ihre Häuser verließen, um bei vermeintlich gesunden Bekannten, Freunden oder Verwandten Unterschlupf zu finden. Die Enge in den überfüllten Häusern hatte persönliche Anfeindungen zur Folge, die später gerichtsnotorisch wurden.1 Der Adel verließ in solchen Fällen seine Stadthöfe, um auf seinen Landgütern eine vorläufige Bleibe zu finden. Das war den Bürgern nur bedingt möglich.
Das Geschäftsleben war nach dem Überfall und der Plünderung durch die Dänen zu Pfingsten 1627 dem Ruin nahe.2 Die Bürger waren wieder einmal zu höheren Kontributionsleistungen aufgefordert. Zahlreiche Protokolle berichten von dem Notstand. Es war unter Bürgern üblich, dass man sich bei finanziellen Schwierigkeiten gegenseitig Geld lieh. Dieses Vertrauensverhältnis wurde erheblich gestört. Schulden konnten nicht mehr bedient werden. Pfändungen und persönlicher Ruin waren die Folge. Bei Aufforderungen zur Zahlung fälliger Zinsen wird häufig die „sächsische frist“ 3 erwähnt, die auf sächsisches Gewohnheitsrecht zurückgeht, wie es im Sachsenspiegel zusammengefasst war. Hinweise deuten an, dass der Sachsenspiegel auch in Lübbecke Rechtshilfe bot.4
Ein am 12. August 1633 nach der Schlacht bei Hessisch Oldendorf zwischen den kaiserlichen und den schwedischen Gesandten in Lübbecke ausgehandeltes Kartell5, in dem nicht nur die Preise für den Freikauf von Gefangenen aufgelistet waren, sondern auch Übergriffe des Militärs unter Strafe gestellt wurden, war für Stadt und Land praktisch wirkungslos.6 Der Lübbecker Stadtsekretär Pohlmann erwähnt das Kartell im Stadtbuch und bemerkt, dass die Gesandten auf Kosten der verarmten Bürgerschaft „wegen Cartelß tractiret“7 und „weitlich gesoffen“8 hätten. Freund und Feind hatten sich also in Lübbecke nicht nur zu Verhandlungen, sondern auch zu einem gemeinsamen Zechgelage zusammengefunden.
Im Jahre1636 waren die Stadtverwaltung und damit das Gericht zeitweise außer Kraft gesetzt. Das Jahr war von wechselnden Besatzungen geprägt. Ob kaiserliche, polnische oder schwedische Truppen sich einquartierten, die aufzubringenden Kosten waren beträchtlich.9 Bei den Verhandlungen mit den Kaiserlichen war Bürgermeister Strohwald als Geisel genommen und erpresst worden. Auch anderen führenden Persönlichkeiten war es nicht besser ergangen. Alle Besatzungen hatten eins gemeinsam, Machterhalt und die rücksichtslose Ausbeutung von Stadt und Land.
Im September 1636 hatten die Kaiserlichen unter Generalmajor Salis Quartier in Lübbecke gesucht. Fünf Regimenter mussten einquartiert werden. Der Generalmajor beanspruchte ein standesgemäßes Quartier in Gehlen Hof am Westertor. Die anderen hochrangigen Offiziere wurden auf die übrigen adeligen und kirchlichen Höfe verteilt. Gute bürgerliche Häuser wurden den Offizieren niederen Ranges zugewiesen. Die unteren Ränge samt Pferden, Kriegsmaterial und Anhang hatten ihre Zelte in den Gärten und Kämpen vor der Stadt aufgestellt und dort „alles Korn so dero Zeit noch im felde außgedroschen, verfüttert, verherret und verdorben in summa alles in undt außerhalb der Stadt grundtauß vernichtet undt unsäglichen schaden gethan, daß es zu erbarmen undt mit Blutigen Zehren [Tränen] zu beweinen“.10
Am 21. November 1636 fand vor dem Lübbecker Stadtgericht eine Verhandlung statt, die sich mit Einquartierungsschäden befasste, die unter den Kaiserlichen vor einigen Wochen entstanden waren. Kläger war Cord Tyleking, Beklagter Lüdeke Meyer. Beide hatten einem Offizier Quartier gewähren und ihn unterhalten müssen. Dieser hatte Tyleking einen Betrag von 9 Rtlr (Reichstaler) „abgenötigt“. Das erpresste Geld hatte der Offizier an Meyer weitergereicht als Entschädigung für zugefügte Schäden. Tyleking war verärgert darüber, wie sich beide, Offizier und Nachbar, auf seine Kosten verhalten hatten, und verlangte von Meyer die Hälfte der Summe zurück. Der Schaden war beträchtlich. Drei Kühe und einige Schweine waren geschlachtet worden. Aus welchen Ställen das Vieh stammte, kann nur vermutet werden. Nähere Angaben fehlen im Protokoll. Meyer verweigerte eine Teilrückzahlung. Laut Zeugenaussage hatte der Adjutant des Offiziers gesagt, beide, Tyleking und Meyer, sollten sehen, wie sie sich einigten. Ob Tyleking jemals entschädigt wurde, ist den Protokollen nicht zu entnehmen.
Die Schweden waren während des Krieges zu einer Landplage geworden, die den Übergriffen der Kaiserlichen und der anderen Kriegsparteien in nichts nachstanden. Übergriffe waren alltäglich. Vieh, Ernte und Vorräte waren vor ihnen nie sicher. Darunter hatten Bauern und Bürger zu leiden. Das hatte auch Bauer Johann Lange aus Twiehausen erfahren müssen. Schwedische Soldaten hatten ihm das einzige Pferd, das er besaß, weggenommen.
Am 19. September 1640 erschien Bauer Lange aus Twiehausen vor dem Lübbecker Stadtgericht, um einen Schaden anzuzeigen, der ihm „vom Schwedischen Volcke“ im Herbst vor etwa drei Jahren zugefügt worden war. Sein einziges Pferd war ihm bei der Arbeit auf dem Felde „fur [vor] den pflug weghgenommen“ worden. Die Schweden hatten das Pferd später an den Nächstbesten verhökert. Auf Umwegen war das Pferd nach Lübbecke weiter verkauft worden. Davon hatte Lange Nachricht erhalten. Für den Bauern gab es untrügliche Kennzeichen, die keinen Zweifel daran ließen, dass das Pferd ihm gehörte. Es hatte unverwechselbare Narben, „ein schmarren“ und „ein schließen im ohr“.11 Das Alter des Pferdes gab der Bauer vor Gericht mit zehn, vielleicht elf Jahren an. Als Zeugen benannte der Kläger Adam Schaper aus Twiehausen und Engelke Möller aus dem benachbarten Kempringen. Bauer Lange bat um „restitution“ [Rückgabe des Pferdes]. Das Gericht gab ihm Recht, verlangte aber Erstattung der Unterhaltungskosten.
Die Kontributionsforderungen des Militärs hatte die Stadt in den letzten Kriegsjahren in äußerste Bedrängnis gebracht. Rittmeister Johann Bruckamp12, ein vermögender Mann, bot seine Hilfe an. Wie er zu seinem Vermögen gekommen war, darüber schweigen sich die Protokolle und das Schuldbuch der Stadt aus. Es ist anzunehmen, dass er im Kriegsdienst ein Vermögen angesammelt hatte. Es war allgemein bekannt, dass führenden Militärs in ihre eigene Tasche wirtschafteten. Bruckamps Hilfe war nicht uneigennützig, was seinen Stand in der bürgerlichen Gesellschaft betraf.
Im Schuldbuch der Stadt ist auf den Namen des Rittmeisters Bruckamp eine Obligation in Höhe von 400 Rtlr eingetragen, die sich aus zwei Beträgen zu je 200 Rtlr zusammensetzt. Der erste Betrag wurde der Stadtkasse am 24. November 1641 von Rittmeister Bruckamp in bar übergeben, der zweite am 29. September 1643. Die Obligationen waren an folgende Bedingung geknüpft: „Diese 400 Rthlr sind dem H[errn] Rittmeister nichtt auf Zinß, sondern solange dieselbe Unbezahlt außstehen, die freyheit von allen bürgerlichen, und Kriegs oneribus [Lasten]. Sie mögen nahmen haben, wie Sie wollen, verschrieben, und deßwegen Versichert worden.“13
Der Rittmeister hatte für sich und seine Nachkommen einen bürgerlichen Sonderstatus ausgehandelt. Statt Zinsen einzunehmen, war er wie die Besitzer der Adelshöfe von städtischen Lasten und Pflichten befreit. Sobald der Betrag zurückgezahlt war, entfielen die Vergünstigungen. Mit dem aufgenommenen Geld beglich die Stadt auferlegte Kriegskontributionen. Ein Termin für die Rückzahlung wird in den Beurkundungen nicht genannt. Ein solcher Termin konnte nicht genannt werden, weil bei den unterschiedlichen Interessen der Kriegsparteien, niemand auch nur ungefähr sagen konnte, wann wieder friedfertige Zeiten anbrechen würden und damit Möglichkeiten geschaffen wurden, Schulden zu begleichen. Trotzdem - die Stadt schaffte es. Spät nach Kriegsende, am 16. Januar 1690, waren die Schulden beglichen.14 Die Familie Bruckamp musste ihren Sonderstatus in der bürgerlichen Gesellschaft aufgeben.
Nach den Angaben im revidierten Hausbesitzerverzeichnis der Stadt Lübbecke von 1647 waren 23 Häuser von ehemals 290 bürgerlichen Stätten im Jahre 1608 verwüstet und verlassen.15 Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges waren im Stadtbild unübersehbar. Die Häuser, auch die noch bewohnten, waren gewöhnlich mit hohen Schulden belastet. Entsprechend war ihr äußeres Erscheinungsbild. Der Krieg hatte das Bürgertum hart getroffen. Gärten und Felder waren verwüstet, Scheunen, Ställe und Keller ausgeräumt worden. Geschädigt waren vor allem die bürgerlichen Häuser, weniger die adeligen und kirchlichen Höfe, die aufgrund ihres Standes von städtischen Belastungen befreit waren und auf die Leistungen der zu den Hofgütern gehörenden Bauernhöfe zählen konnten, jedoch mit Einschränkung, weil Höfe verwüstet und unbewohnt waren.
Eine der härtesten Einquartierungen erlebte das wehrlose Lübbecke im November 1647. Befehlshaber der einquartierten Truppen war der in schwedischen Diensten stehende Obrist Johann Heinrich Edler von der Planitz. Unter seinem Kommando ging es alles andere als edel zu. Wie ein Heuschreckenschwarm fiel das Kriegsvolk, ein Völkergemisch, am 7. November in Lübbecke ein im Gefolge „Weiber, Huren und Jungen“. Etwa 2.500 Pferde waren zu versorgen. Vier bedrückende Tage lag das Militär den Einwohnern auf der Tasche. Adel und Bürger wurden geschattet [mit Kontributionen belegt] und „gepresset“ und alles „rediste“ [Vorrat] verfüttert. Speck, Würste und Kleidung und, was sonst noch die Begierde erweckte, wurde mitgenommen. Die besten Pferde wurden gegen schlechtere zwangsweise eingetauscht. 30 Reichstaler wurden als Ablöse verlangt. Die Stadt war am Ende und wartete erschöpft auf den ersehnten Frieden. Die Hoffnung war schnell verflogen. Die nächsten schwedischen Truppen hatten schon ihr Feldlager in der Nähe der Wetlage aufgeschlagen.
Am 19. August 1648, zur Zeit der Fixierung der Friedensverträge, mussten die Besitzverhältnisse eines Hauses geklärt werden, das dem verstorbenen Johann Meyer gehört hatte und während der „Kriegeß Unruhe“ verwüstet worden war. Die Bürgerstätte war unbewohnt und einsturzgefährdet. Nachbarn hatten sich an die Stadtverwaltung mit der Bitte gewandt, die Besitzverhältnisse zu klären. Sie befürchteten wegen der unwirtlichen Nachbarschaft eine Wertminderung ihrer Häuser. Die Stadtverwaltung veranlasste eine öffentliche Bekanntmachung, um mögliche Erben und Gläubiger ausfindig machen zu können. Mehrmalige Abkündigungen während der Gottesdienste blieben erfolglos. Niemand hatte sich gemeldet. Das Haus wurde per öffentlichen Anschlag zum Kauf angeboten. Eine Schuldforderung von 40 Rtlr war zu begleichen. Die Gläubiger hatten eine Übernahme des Hauses abgelehnt. Weitere mündlich vorgetragene Ansprüche konnten schriftlich nicht belegt werden und wurden abgewiesen. Bürgermeister Nagel gelang es schließlich unter Zustimmung des Rates und der Schützenmeister, einen Käufer zu finden, nämlich Peter Welpott. Er erwarb das Anwesen samt einem Kirchenstuhl für Männer an „der Thoren Dhör“16 und, falls vorhanden, einen Kirchenstuhl für die Frauen. Welpott versprach, das baufällige Haus abzustützen und zu reparieren.
Die finanzielle Not im Bürgertum zeigen die städtischen Gerichtsprotokolle der letzten Kriegsjahre. Überwiegende Klagepunkte waren Geldforderungen. Verarmt und kriegsmüde notierte der Lübbecker Stadtsekretär nach Kriegsende am 14. Februar 1650:
„Besser ist friede mit gefehrlichkeit
Alß kriegh mit eitel gerechtigkeit .“ 17
Lübbecke, 18. September 2017
Autor: Stadtchronist Helmut Hüffmann
Illustration vom Verfasser.
[1] Stadtarchiv Lübbecke (zit.: StadtAL), A 128, Bl. 49 u. 51.
[2] Helmut Hüffmann, Der dänische Überfall auf die Stadt Lübbecke im Jahre 1627 und die Grappendorfschen Forderungen. In : 89. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, S. 113 – 135.
[3] StadtAL, A 128, Blatt 38 passim. Zeitraum von 6 Wochen und 3 Tagen.
[5] Vertrag zwischen Kriegsparteien.
[6] Die Regelung betraf den Niedersächsischen und den Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis.
Gunnar Teske, Bürger, Bauern, Söldner und Gesandte, Münster 1997, S. 112.
[8] StadtAL, Stadtbuch, S. 108.
[10] StadtAL, A 80 (Schuldbuch), Bl. 108´. Stadtbuch, S. 113. Das Lager war am „Halerbaum“ in der heutigen Bahnhofsgegend.
[11] Eine längliche Narbe und eine Kerbe am Ohr.
[12] StadtAL, A 891 (Bürgerbuch), Hof- und Hausliste. Druck: Lorme, Edouard de, Ein Bürgerverzeichnis der Stadt aus dem Jahre 1608, in: Vierteljahresschrift für Heraldik, Sphragistik und Genealogie, 27. Jg. 1914, S. 192, Nr. 39. Ebd. Rittmeister Bruckamp als Besitzer des Hauses von Thomas Vogt verzeichnet.
[13] StadtAL, A 80 (Schuldbuch), Bl. 65.
[15] Helmut Hüffmann, Bruchherren, Vierziger und das Bürgerbuch der Stadt Lübbecke. In: 97. JBHVR, (Jg. 2012), S. 105.
[16] Gemeint ist die heute zugemauerte „Totentür“, eine Verbindungstür zwischen Kirchenraum und einem Anbau außerhalb des Kirchenraumes zur Aufbahrung. Fälschlich als Scharfrichtertür bezeichnet. Sie befindet sich in der Westwand des nördlichen Seitenschiffes.