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Lehrer und Soldat - Aus der Frotheimer Schulchronik

Sicherlich gehört es nicht zu der Arbeit eines Chronisten, Persönlichkeiten darzustellen und zu würdigen. Das ist Aufgabe eines Biographen. Gewöhnlich belassen es die Chronisten bei der Erwähnung einiger lobenswerter Eigenschaften. Trotzdem findet man gelegentlich in den Chroniken der Gemeinden und Vereine, der schulischen und kirchlichen Institutionen Versuche, Persönlichkeiten lebensnah darzustellen. Wird die Darstellung mit den lokalen Ereignissen eng verbunden, so rückt die Chronistik in die Nähe lebendiger Geschichtsschreibung.

Ein Beispiel dieser Art liefert die Frotheimer Schulchronik unter der Führung von Lehrer Möller. Frotheim ist eine Bauerschaft im Kreis Minden Lübbecke, die vor der Kommunalreform zum Amt Gehlenbeck gehörte. Heute ist sie ein Ortsteil des Espelkamper Stadtgebietes. Die Frotheimer Schulchronik wurde 1826 begonnen und endet mit den Eintragungen zum Jahr 1968. Ihr erster Chronist war Lehrer Johann Christoph Detering, der eine Fülle von Nachrichten zur Orts- und Schulgeschichte eintrug, von der Gemeinheitsteilung bis zu den Dorffesten und Schulvisitationen. Seine Eintragungen zur Schulgeschichte gehen bis in das ausgehende 17. Jahrhundert zurück.

Deterings Sohn, Johann Heinrich, der seinem Vater 1822 als Hilfslehrer beigegeben wurde und 1835 eine volle Lehrerstelle erhielt, übernahm 1837 die Chronikfortschreibung in der Tradition seines Vaters. Neben den Eintragungen zur Schulgeschichte findet man auch bei ihm zahlreiche Hinweise auf Ereignisse in der Gemeinde. Die Betstunden um Regen in der Frotheimer Kapelle im Dürresommer 1858 sind ebenso getreulich eingetragen wie die reißenden Regengüsse des Gewitters vom 4. August 1878. Es waren Ereignisse, die tief in das Leben der kleinen Gemeinde eingriffen und von denen noch jahrelang erzählt wurde.

Lehrer Möller übernahm 1895 die Chronikfortführung. Die kleine Kunst Möllers bestand darin, dem Leser die Persönlichkeiten des Dorfes nahezubringen, sei es den ruppigen Tischler, der jeden vor den Kopf stieß, oder seinen Vorgänger Detering, dem die Dorfbewohner auch dann den Respekt nicht versagten, wenn er beim Erzählen faustdicke Lügen auftischte. Schulvisitationen wurden von Möller ohne Umschweife so wiedergegeben, wie sie verlaufen waren. Die Schulvisitation von 1889, von der er in seinen Nachträgen zu Deterings Chronikführung berichtet, blieb den drei Frotheimer Lehrern in unangenehmer Erinnerung. Die Lehrer waren von Geheimrat Dr. Esser und Regierungsrat Hechtenberg so schroff, abwertend und herablassend behandelt worden, daß Möller aufgrund solcher Taktlosigkeiten einen Berufswechsel ins Auge faßte.

Möller setzte sein Vorhaben nicht in die Tat um. Mit wachen Augen beobachtete er seine Umwelt und trug seine Beobachtungen in die Chronik ein. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dem Kollegen Esken, der von 1895 bis 1899 Lehrer an der Frotheimer Schule war. Esken wäre gerne Soldat geworden, jedoch seine schwächliche Gesundheit ließ ihn von vornherein von diesem Berufswunsch Abstand nehmen. Sein Vorbild dürfte der schneidige, seine Pflicht immer ohne Murren erfüllende preußische Offizier gewesen sein.

Als Esken in Frotheim seinen Dienst angetreten hatte, glaubten sich seine Schüler bald in eine Kadettenanstalt versetzt. Zwei Räume in der Schule wurden als Mannschaftsstuben eingerichtet. Mützen, Mäntel, Helme, Tornister, Trinkbecher, Stiefel, hölzerne Gewehre, die später durch kleinkalibrige ersetzt wurden, fanden hier ihr Magazin. Schränke und Fensterscheiben wurden schwarz-weiß-rot oder schwarz-weiß angestrichen. Eine Schülerkapelle wurde aufgebaut. Trommeln, Pfeifen, Flöten und ein Schellenbaum wurden angeschafft. In der Gemeinde wurde Geld gesammelt, und Esken selbst dürfte manche Mark aus der eigenen Tasche draufgelegt haben.

Der einsame TrommlerDer Chronikschreiber, Lehrer Möller, wunderte sich, daß die Dorfbewohner dieses militärische Schauspiel so widerspruchslos hinnahmen. Immerhin setzte es kräftige Hiebe bei den kleinen Rekruten, wenn die Militärzucht nicht eingehalten wurde. Wer von den Frotheimer Eltern wagte es schon oder wem von ihnen kam es überhaupt in den Sinn, dem militärischen Treiben an der Schule Einhalt zu gebieten? Falls der Sohn aus der kleinen Armee entlassen wurde, waren nicht nur Eitelkeit und Ehre der Betroffenen, sondern auch die der Eltern verletzt. Sie wurden nicht zum Kommers eingeladen, zu Faßbier und belegten Broten. Hier wollte niemand fehlen, wenn die kleinen Rekruten Soldatenlieder sangen. Beim Anblick der Söhne glänzten die Augen der Väter, die sich beim Klang der Musik an die vergangene Militärzeit erinnerten, die jetzt jugendfrisch vor ihren Augen stand.

Esken war den ganzen Tag im Einsatz, morgens in der Schule und nachmittags bei Militär- und Musikübungen. Manche schlaflose Nacht wurde im Dienst der Sache geopfert. Esken schrieb ein Buch über Schülerspielerkorps, das Marowsky in Minden verlegte. Die Einnahmen der Publikation dürften in die Frotheimer Militärkasse geflossen sein.

Die Begeisterung für das Militär griff bald auf den eigentlichen Unterricht über. Während der morgendlichen Unterrichtsstunden wurden Tische und Bänke zur Seite geschoben. Trommeln und Pfeifen wurden aus den Schränken geholt, und ein ohrenbetäubender Lärm begann. Der Unterricht in den Nachbarklassen wurde empfindlich gestört. Vorhaltungen seitens der Kollegen hatten immerhin den Erfolg, daß die morgendlichen Konzerte eingestellt wurden.

Das Jahr 1896 brachte den Höhepunkt des Frotheimer Militärschauspiels, das kundigen Augen die persönliche Tragik Eskens nicht verborgen bleiben konnte. In diesem Jahr wurde das Porta-Denkmal eingeweiht. Die Frotheimer Soldaten, so war es vorgesehen, sollten einen Ehrenplatz auf dem Mindener Markt erhalten. Hier würden die Majestäten passieren, und es blieb zu hoffen, daß ein gnädiger Blick auf die Frotheimer fallen würde. Die Aufregungen machten Esken einen Strich durch die Rechnung. Sein schwaches Herz war den Aufregungen nicht gewachsen. Anton Lückermann, der es in drei Dienstjahren bis zum Unteroffizier gebracht hatte und von robuster Natur war, führte anstelle von Esken die Frotheimer Garde. In Minden geschah das herbeigesehnte Wunder. Die Kaiserin machte ihren Gemahl auf die Frotheimer aufmerksam, und ein Lächeln kaiserlicher Gunst wurde dankbar entgegengenommen.

Währenddessen dürfte Esken zu Haus gesessen haben, um darüber nachzugrübeln, ob auch alles, aber auch wirklich alles, wie vorgesehen, geklappt hatte. Befriedigt konnte er am Abend den Bericht seiner Soldaten zur Kenntnis nehmen. In sich versunken, entstand vor seinen Augen das Bild der Mindener Ereignisse, das die Wirklichkeit noch an Lebendigkeit und Farbe übertroffen haben dürfte. Vom Glück ergriffen, sandte er dem Kaiserpaar eine Fotografie seiner Rekruten. Sein Eifer kannte keine Grenzen mehr, als er ein Antwortschreiben aus Berlin erhielt, dem ein Gnadengeschenk von 100 Mark beigefügt war.

Neue Anschaffungen wurden gemacht. Die militärischen Übungen fanden häufig auf einem im Heuerlingsteil an der Diepenauer Straße liegenden Übungsplatz statt, der zu diesem Zweck angemietet worden war. Gutsbesitzer Stille auf Renkhausen, der in Lübbecke zur Aushebungskommission gehörte, förderte das Frotheimer Soldatenspiel mit Geldspenden. Die Kleinen erhielten Galauniformen und sollten 1898 in Minden zugegen sein. Das Gespann für die Fahrt stellte Gutsbesitzer Stille. Die Vorstellung der Frotheimer Garde bei der Mindener Kaiserparade muß für Esken enttäuschend verlaufen sein. Er verlor weiter kein Wort mehr darüber. Eines Tages wurde er zum Kreisschulinspektor, Pastor Priester, nach Lübbecke vorgeladen. Hier wurde ihm freundlich anheimgestellt, seine Kräfte zu schonen und nichts Neues zu beginnen.

In seinem Eifer hatte Esken seine Arbeitskraft überschätzt. Sein Körper war den Anstrengungen nicht mehr gewachsen. Er kränkelte und mußte sich schonen. Das Gefühl, seiner angeblichen Pflicht gegenüber seinen Soldaten nicht mehr nachkommen zu können, machte ihn reizbar und nervös. Er sprach von Schlaflosigkeit und rheumatischen Beschwerden. Als sich eine Gesundung nicht einstellen wollte, fuhr er zu seiner Schwester nach Röllingsen bei Soest, um dort Erholung und Genesung zu finden. Plötzlich war von Heiratsplänen die Rede. Wahrscheinlich war es die Hilflosigkeit, die seinen Sinn für das Familienleben weckte. Sein Leiden verschlimmerte sich. Schließlich wurde er in das Soester Krankenhaus eingewiesen.

Die Frotheimer erhielten eines Tages die Nachricht, daß Esken verstorben sei. Seine Kollegen Möller und Lecon reisten nach Röllingsen. Der Pastor von Ostönnen hielt die Grabrede und würdigte Eskens Liebe zur Jugend, zu König und Vaterland.

Lehrerkollegium und Klassen der Volksschule Frotheim um 1900In Frotheim verbreitete sich schnell die Nachricht, daß ein beträchtlicher Schuldenberg zu Lasten Eskens angewachsen sei. „In seinem blinden Eifer hat er sich weiter gestreckt, als er sich decken konnte“, heißt es in der Frotheimer Schulchronik. Noch auf dem Krankenlager hatten ihm die Gläubiger zugesetzt. Schließlich kam seine Habe unter den Hammer. Der Erlös war so gering, daß nur ein Bruchteil der Schulden gedeckt werden konnte.

Lübbecke, 8. Oktober 2008

Lehrerkollegium und Klassen der Volksschule Frotheim, im Mittelpunkt Hauptlehrer Möller. Um 1900. Foto: Schule Frotheim.

 

Autor: Stadtarchivar Helmut Hüffmann, Illustration vom Verfasser 

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