Stadt Lübbecke

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Handel und Wandel auf der Langen Straße und dem Marktplatz in Lübbecke

Endlich raus aus dem StallDie Lange Straße in Lübbecke war in mittelalterlichen Tagen unter der Bezeichnung der „Lange Steinweg“ bekannt. Hier waren Handwerker, kleine Händler und ein paar Wirte zu Hause. Außerdem gab es einige beachtenswerte Bürgerhäuser, die von den Familien der Senatoren und des Bürgermeisters bewohnt wurden. Zu jedem Haus gehörten Stallungen für Pferde, Kühe und Schweine und dazwischen gackerte das Federvieh, das sich gerne auf den Misthaufen zu schaffen machte. Frei umherlaufende Schweine waren der Stadtverwaltung ein ständiges Ärgernis. Im schlimmsten Falle wurden sie eingefangen, geschlachtet und das Fleisch dem Armenhaus am Ostertor überlassen. Die Geistlichen mussten hin und wieder selbst tätig werden, um die zwischen den Grabstellen vor der Kirche grasenden Ziegen zu verjagen. Ratten machten sich bemerkbar und waren schon wieder verschwunden, bevor ein paar streunende Hunde auf sie aufmerksam geworden waren. Hin und wieder ließen sich Rattenfänger blicken, die den staunenden Kinderaugen an einem Stock mit dem Schwanz aufgeknüpfte tote Ratten zeigten in der Hoffnung in den Häusern als Rattenfänger eingesetzt zu werden. Dazu kam die Taubenplage. Die Taubentürme auf den Adelshöfen waren den Bürgern ohnehin ein Dorn im Auge. Außer auf den Adelshöfen, wo einem nach Bürgermeinung die Tauben gebraten in den Mund flogen und als Delikatesse geschätzt waren, trafen sie bei den Bürgern auf wenig Gegenliebe. Schwärme von Tauben setzten der frischen Aussaat in den Bürgergärten draußen vor den Toren zu und pickten das mühselig Ausgesäte wieder weg. Hinzu kamen Rotten von Wildschweinen, die die Gärten durchwühlten. Ihrer konnte man wenigstens noch Herr werden. Nicht wenige von ihnen landeten als Braten auf dem Festtagstisch.

Ein gefundenes FressenZu morgendlicher Stunde trieben die Hirten die grunzenden und quiekenden Schweine zum Stadttor hinaus auf die städtischen Weiden, wo schon die Kühe und einige Pferde unter Aufsicht der städtischen Hirten friedlich vor sich hin grasten. An manchen Tagen gab es auf dem „Langen Steinweg“ beängstigendes Gedränge. Handelswagen mussten sich unter den Flüchen der Wagenknechte den Weg durch die Menge bahnen. Der Pferdeknecht eines Personenwagens (Kutsche), dessen Wappen an den Seitentüren auf einen der Adelshöfe hinwies, verlangte lautstark nach Durchfahrt. Dazwischen hatten sich ein paar Schweine selbständig gemacht, die von ihrem Eigentümer unter viel Geschrei in den Stall zurückgetrieben wurden.

Die Straßen und Gassen samt Gossen sauber zu halten, war Bürgerpflicht. Trotzdem waren verdreckte Straßen keine Seltenheit, eher die Regel. Bei schlechtem Wetter und entsprechendem Straßenschmutz kamen bei den Frauen die „Trippen“ zum Einsatz, eine Art hölzerne Unterschuhe mit erhöhtem Absatz und Halteriemen, die das lederne, jedoch durchlässige nach außen gewendete Schuhwerk schützen sollten. Vorsichtig „trippelten“ die Frauen dann über das unregelmäßige holprige Steinpflaster der Straßen und Gassen in der Furcht zu stolpern, im Straßendreck zu landen und dem Spott der Jugend ausgesetzt zu sein. Über allem lag ein undefinierbarer Dunst, gespeist aus Küchendünsten, dampfendem Stallmist, Gerüchen der Handwerksstuben, der Gerber- und Brauereien. Es war ein Gebräu von Ausdünstungen, das bei Sonnenschein und Fliegenschwärmen zur Plage werden konnte. Schon das Betreten eines Hauses ließ ahnen, was für ein Geschäft hier betrieben wurde. Die Handelsleute, die von Stadt zu Stadt reisten, kannten diesen typisch städtischen Dunst, der in allen Städten, ob groß oder klein, in der Luft lag und mehr oder weniger anzüglich in die Nase stieg. An diesem geruchsbehafteten Zustand sollte sich über Jahrhunderte hinweg nur wenig ändern.

Die Lange Straße war noch im 18. Jahrhundert Handwerker- und Wohnstraße in einem, an der auch einige Ackerbürgerhäuser Platz hatten. Bevorzugte Wohnlage für die Häuser der Senatoren und Bürgermeister war die Nordseite, weil hier das Sonnenlicht auf die Frontseite der Häuser fiel. Im Jahre 1769 waren von 57 nummerierten Häusern 7 mit Ackerbürgern besetzt, 21 mit Handwerkern und 14 mit Kaufleuten und Händlern. In 5 Häusern wohnten Spinner, in einem die Familie eines Tagelöhners. Die übrigen Häuser waren nicht bewohnt. Möglicherweise wurden sie als Lagerhäuser oder Scheunen genutzt. Ein Grundstück scheint nicht bebaut gewesen zu sein.

Vom Wester- zum Ostertor und umgekehrt zogen in Lübbecke die Fuhrwerke der Handelsleute über die Lange Straße, einem kleinen Zwischenstück des Handelsweges zwischen Osnabrück und Minden und darüber hinaus. Gefürchtet war bei schlechtem Wetter die Papenstraße, die vom Bergertor über eine Anhöhe nach Kirchlengern und darüber hinaus nach Herford führte. Manches Pferdegespann war hier, bevor es die Anhöhe, die heutige Horst's Höhe, erreicht hatte, stecken geblieben und hatte nur mit Mühe wieder fahrtüchtig gemacht werden können. Besonderen Ärger verursachten die Holzfäller, die die zusammengeketteten Holzstämme von einem Pferd ziehen und über den Boden schleifen ließen, was zu unnötigen Straßenschäden führte. Verbote der Stadtverwaltung und Strafen hatten keine Abhilfe schaffen können.

Die schriftlichen Angaben der Torschreiber aus dem Jahre 1743/44 geben ein aufschlußreiches Bild vom Handelsverkehr. Einen hohen Anteil hatten die Kornladungen. Zahlreiche Wagen waren mit Torf und Steinkohle beladen. Ganze Wagenladungen mit Käse passierten die Stadttore. Im übrigen weisen die Eintragungen der Torschreiber ein buntes Gemisch an Waren aus. Felle, Leinen, Hausgeräte, Dielen, Sensen, Mühlsteine und Salz werden als passierende Handelsgüter aufgeführt. Wiederholt notierte der Torschreiber „irden Zeug“. Hierbei handelt es sich um Tonwaren wie Krüge, Kannen und Teller. Dann wieder ist „hölzern Zeug“ eingetragen. Hierunter fielen Backtröge, Buttermollen und Schöpflöffel, letztere heute noch im plattdeutschen Sprachgebrauch als „Schleif“ bekannt. Natürlich gehörte zu den Handelswaren Tabak, Wein, Branntwein und Hopfen für die Bierbrauer. Die Lübbecker Bäcker werden ihren Bedarf an Getreide kaum über den Handelsverkehr gedeckt haben, jedoch ihren Bedarf an Hopfen, denn jeder Bäcker war auch Bierbrauer. Auf alle Waren des Durchgangsverkehrs wurde ein Wegegeld erhoben, das der Stadtkasse zufloss.

Auch Viehherden wurden durch die Stadt getrieben, deren Wegegeld nach Stückzahl berechnet wurde. Am 11. Oktober 1743 wurden zwei Herden von insgesamt 221 Kühen durch das Westertor getrieben, bestimmt für den Bielefelder Viehmarkt. Am 16. Oktober waren es fünf Herden von insgesamt 481 Kühen, die dem Viehmarkt in Enger zugetrieben wurden. Alle Versuche, in Lübbecke einen konkurrierenden Großmarkt für Vieh einzurichten, waren letzten Endes vergebens. 

Die meisten Warenfuhren passierten die Lange Straße. Auf die durstigen Kehlen der Fuhrleute hatten sich die Bäcker und ein Gasthof eingerichtet. Sie boten den auswärtigen Fuhrleuten den üblichen Ausspann in der Hoffnung auf ein gutes Geschäft. Natürlich gab es für die durchziehenden Gespanne eine Pferdetränke zum „Tränken und Abspülen“ der Pferde. Die auch als Schwemme bezeichnete Tränke lag vor dem Ostertor.

Auf zum Lübbecker MarktIn Lübbecke wurde zweimal in der Woche Markt gehalten. Die Verkaufsstände lagen an der Marktstraße zwischen Rathaus und Kirche, begrenzt nach beiden Seiten durch die Hofummauerungen zweier Burgmannshöfe. An den Markttagen war jede Handelstätigkeit außerhalb des Marktes untersagt. Die Höker boten Butter, Hering, Stockfisch, Schmalz und Speck im freien Verkauf an nach heutigen Begriffen „ohne Preisbindung“. Gartenkräuter, Wildbret, Eier und Käse warteten auf Käufer. Das Feilschen und Handeln konnte beginnen. Die Bäcker und Schlachter waren als Mitglieder der Ämter (= Innungen) verpflichtet, die städtischen Preisvorgaben einzuhalten, die öffentlich am Rathaus und an den Stadttoren neben der Marktordnung ausgehängt waren.

Viermal im Jahr waren die großen Markttage, von denen zwei für den Viehhandel zugelassen waren. An diesen Tagen herrschte drangvolle Enge auf den Straßen und in den Gassen der Stadt. Das Großvieh war in der „Köttelbeke“ aufgereiht. Dieser Straßenteil zwischen Markt und Lange Straße war von einem Bach durchflossen, über den die Fäkalien ausgeschwemmt wurden. Warenfuhren konnten wegen der beengten Straßenverhältnisse hier nicht passieren. Die Bezeichnung „Köttelbeke“ wurde 1927 aufgegeben zugunsten der Bezeichnung „Bäckerstraße“. Die alte Bezeichnung war den Anliegern und einigen Ratsherren zu anrüchig gewesen. Durch die Namensänderung war die ursprüngliche Bäckerstraße zwischen Gänsemarkt und Lange Straße um einen südlichen Teil verlängert worden.

Böse Blicke seitens der Lübbecker gab es bei den Markttagen, wenn sich Schneider, Schuster oder andere Handwerker aus anderen Städten und Orten unter das Handelsvolk gemischt hatten. Dann gab es zwischen den Einheimischen und den Auswärtigen nicht nur zornige Worte, sondern es wurde auch vom Faustrecht Gebrauch gemacht. Mit der einsetzenden Gewerbefreiheit des frühen 19. Jahrhunderts war der Handel kein örtliches Monopol mehr. Der Markt durfte auch von auswärtigen Händlern und Handwerkern beschickt werden.

Marktplatz mit Gaslaterne und Rathaus um 1900Die Markttage wurden noch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert mit Erfolg fortgesetzt. Das Marktgeschehen lässt sich über die Erhebung der Stättegelder wenigstens bruchstückhaft rekonstruieren. Am 3. Oktober 1839 gab es Tanzzelte, Zelte für Kaufmannswaren und solche für Speisen und Getränke aller Art. Töpfer, Kesselhändler, Scherenschleifer, Blechwarenhändler, Sattler, Schuster, Band- und Uhrenhändler waren vertreten. Es gab Stände mit Gemüse und Früchten sowie Karussells, die von Pferden gezogen wurden. Die Marktstättengelder geben auch Auskunft über den Herkunftsort der Händler und Handwerker. Nahezu alle Orte der näheren Umgebung sind vertreten. Immer vertreten sind die Kuchenbäcker aus Borgholzhausen. 

Die einsetzende Gewerbefreiheit sollte im Laufe der Zeit erhebliche Veränderungen mit sich bringen. Schuhe, Stoffe, Haushaltsgeräte verschwanden allmählich aus dem Warenangebot der Wochenmärkte. Arzneimittel waren schon im Laufe des 18. Jahrhunderts vom Markthandel ausgeschlossen worden zugunsten der Apotheken. An der Langen Straße begann die Zahl der Händler und Kaufleute mit privaten Verkaufslokalen zu wachsen. Die Händler vom Hausierer bis zum Kaufmann passten sich den Bedürfnissen und Ansprüchen an. Die Bevölkerung der Stadt war von etwa 2.200 Bewohnern im Jahre 1800 auf etwa 2.800 im Jahre 1850 angestiegen, was auf die verbesserte Gesundheitsfürsorge zurückzuführen war. Folge war aber auch eine zunehmende Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten. Trunksucht, Bedarfskriminalität und Verwahrlosung waren die unmittelbaren Folgen. Andererseits gab es in wenigen Familien wachsenden Wohlstand, der bereitwillig zur Schau getragen wurde, sei es in der Garderobe oder der Präsentation ihrer Häuser, innen wie außen.

Die Lange Straße bot hier ein anschauliches Bild. Sie hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine bessere Pflasterung bekommen, und es gab Bürgersteige. Obwohl Viehhaltung noch üblich war, waren die Misthaufen vor den Türen verschwunden. Sorgfältig und modisch gekleidet, ließ sich die bessere Damenwelt hier blicken. Dazwischen verdreckte und zerlumpte Gestalten, die keinen Platz in dieser Gesellschaft gefunden hatten. Einen erbarmungswürdigen Anblick boten schlecht ernährte zerlumpte Kinder, deren Väter der wenig einträglichen Arbeit eines Tagelöhners nachgingen und nicht selten in übel beleumdeten Kneipen anzutreffen waren, um hier ihren kargen Lohn für billigen Schnaps auszugeben. Dass beide Elternteile im Armutssuff versackten und auf städtische Hilfe aus dem Armenfonds angewiesen waren, war nicht die Ausnahme.

Um 1860 hatte sich das Bild an der Langen Straße im Vergleich zu den Zuständen um die Mitte des 18. Jahrhunderts verändert. Das traf auch auf das äußere Bild zu. Fachwerkfassaden waren nicht mehr zeitgemäß. Man begann sie zu verputzen oder mit Schiefer zu verkleiden. Die Ackerbürgerhäuser waren verschwunden. Die Anzahl der Handwerker, Händler und Kaufleute hatte sich etwas erhöht. Vertreten waren auch ein Arzt, ein Rechtsanwalt und ein Apotheker. Es gab vier nicht bewohnte Häuser, die vermutlich als Scheunen oder Lagerhäuser genutzt wurden. Drei Häuser waren Wohnhäuser, bewohnt von Gerichtsbeamten und deren Familien. Ein weiteres wurde von dem Diätar des Gerichts, d. h. dem Gerichtsschreiber und seiner Frau bewohnt. Verschwunden waren die Tagelöhner. Auf der untersten Stufe dieser Gesellschaft standen zwei Kleinhändler und ein Maurergeselle. Gesellschaftlicher Mittelpunkt waren drei Gasthöfe, darunter das spätere Deutsche Haus.

Westerthor um 1895

Westlicher Zugang zur Langen Straße. Im Hintergrund das Hotel Ruehe, später Deutsches Haus, an der Ecke Lange Straße/Blüttenstraße um 1895.

Die Lange Straße wurde mehr und mehr zum Handelszentrum der Stadt. Die Bäcker begannen die Bierbrauerei einzustellen. Stattdessen waren an der Langen Straße kleine Destillen entstanden, die von Kaufleuten und Händlern als Nebenbetrieb geführt wurden und die zahlreiche männliche, gelegentlich auch weibliche Kundschaft mit Schnaps, Likör und Bier versorgten. Die Destillateure zeigten sich von moralischen Vorhaltungen des „Mäßigkeitsvereins“, der auf Betreiben der Kirche entstanden war, wenig beeindruckt. Oberhalb des Bergertores war 1842 die Brauerei Barre gegründet worden. An der Langen Straße entstanden respektable Geschäftshaushalte, die auch Bankgeschäfte in Verbindung mit Großbanken abwickelten. Die 1838 gegründete Lübbecker Stadtsparkasse war für sie keine Konkurrenz. Sie musste bereits 1843 geschlossen werden. Dass ein Justizkommissar Kassenrendant war und zu allem Überfluss noch in Rahden ansässig war, war für potentielle Kunden schon abschreckend genug. Auf jeden Fall brachte das Geschäft gerade so viel ein, um den Rendanten zu entlohnen. Bürgermeister Wilmanns zog die Reißleine, legte dem Rat die ernüchternden Zahlen vor und erwirkte die Zustimmung, dem städtischen Geldgeschäft ein Ende machen zu dürfen.

Lübbecke, 16. Dezember 2008

Autor: Stadtarchivar Helmut Hüffmann, Illustrationen vom Verfasser 

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