William Shakespeare hat einmal die denkwürdigen Worte gesagt, es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen ließe. Gerade im Herbst, wenn die langen Abendstunden zum Nachdenken einladen, erinnern sich viele Menschen der Worte des Dichters. Die Gedenktage Allerseelen, Allerheiligen und der Ewigkeitssonntag mahnen die Menschen, sich der Endlichkeit ihres Lebens bewusst zu bleiben. Erinnerungen an frohe und bisweilen schwere Zeiten, die sie mit ihren verstorbenen Angehörigen verlebt haben, kehren zurück. Es bleibt die stille Hoffnung auf ein Wiedersehen nach dem Tode.
Das ist nicht nur heute so, sondern es bestimmte auch das Handeln der Menschen in der Vergangenheit. Zwar spielt der Aberglaube an Geister heute keine bedeutende Rolle mehr, aber Horoskope, Mondkalender und Esoterik nehmen noch immer einen breiten Raum im Alltag vieler Menschen ein. Auch vertraute Rituale sind den Menschen angesichts von Tod und Ewigkeit nach wie vor wichtig, um im Trauerfall ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu spüren. Die zunehmende Verstädterung führt jedoch dazu, dass manche Rituale und Zeremonien in Vergessenheit geraten und nicht mehr gelebt werden.
Als im Jahre 1926 in Nettelstedt der Neubau der Volksschule errichtet wurde, mauerte man eine Zeitkapsel mit ein. Diese wurde vor wenigen Wochen bei Arbeiten an der Schule gefunden. Als man sie öffnete, fand man neben Abschriften von Protokollen der Gemeinderatssitzungen auch Geldscheine, Fotos und eine kurze Zusammenfassung der Geschichte Nettelstedts. Einige dieser Aufzeichnungen sind für die volkskundliche Arbeit von Bedeutung. Der ehemalige Rektor der Volksschule, Karl Meyer-Spelbrink, hatte nämlich unter anderem aufgeführt, wie die Menschen in Nettelstedt sich im 19. Jahrhundert bei einem Trauerfall verhalten haben. Meyer-Spelbrink hatte sein Wissen vom "alten Lohmann", einem Mann, der das dörfliche Leben bis zu seinem Tode im Jahre 1926 stark geprägt hat. Als er im Alter von 94 Jahren verstarb, hatten die Städte und Dörfer ein völlig anderes Gesicht als heute. Man lebte stiller und geheimnisvoller. Die Häuser waren dunkel und im Herbst und Winter meist empfindlich kalt. Elektrisches Licht, fließendes Wasser oder gar eine Zentralheizung waren für viele noch Zukunftsmusik.
Die Bewohner auf dem Husen und dem Aspel in Nettelstedt hatten aber bereits gemeinsam eine Dreschmaschine und einen Totenwagen angeschafft. Für diesen hatten sie eigens einen Unterstand gebaut. So machten sie deutlich, dass sie auch auf ihrer letzten Erdenfahrt mit gebührender Würde behandelt werden wollten.
Meyer-Spelbrink schreibt 1926: "Wenn jemand gestorben ist, sei es Tag oder Nacht, so werden die Nachbarn geweckt. Sie gehen dann ins Trauerhaus, und die Nachbarn helfen bei notwendigen Handreichungen. Diese Sitte ist wohl ein Überbleibsel der noch vor 40 Jahren üblichen Totenwachen. Der nächste Nachbar übernimmt die Meldung beim Amt, Pastor, Kantor und Läutefrau und die andern helfen, die verwandten, Freunde und Bekannten in große und kleine Trauer zu bitten. In große Trauer werden diejenigen gebeten, die dem Heimgegangenen besonders nahe gestanden haben. Sie sitzen während des Gesanges von 2 bis 3 Liedern, die vom Kantor geleitet und etwa 20 Minuten vor Ankunft des Pastors gesungen werden, in einer besonderen Stube und treten vor dem Anfang der Predigt unter Vorantritt der allernächsten Anverwandten in feierlichem Zuge um den Sarg des teuren Toten, der [auf der Deele] unter der Bodenluke aufgestellt ist. Lange weiße Tücher zu beiden Seiten der Diele erhöhen die Feierlichkeit des Ortes. Zu beiden Seiten der Diele sind lange Bänke für die übrigen Trauergäste aufgestellt. Es ist zur schönen Sitte geworden, daß der Posaunenchor mit seinen ernsten Weisen den Gesang der Gemeinde begleitet. Oft treten auch die Arbeitsgenossinnen von einer der 9 Zigarrenfabriken zu einem Chor zusammen, um dem heimgegangenen Freunde durch drei Lieder den letzten Gruß ins Grab zu singen. Daß der Posaunenchor und der im Jahre 1918 gegründete Jungfrauenverein es als ihre Pflicht ansehen, kranke und alte Dorfgenossen abends mit ihren Weisen zu erfreuen, soll nicht unerwähnt bleiben. Nach der Predigt im Hause des Heimgegangenen singt die Gemeinde 'Wenn ich einmal soll scheiden' und dann wird der Sarg von den jungen Leuten aus der Nachbarschaft feierlich zu Grabe getragen. Besonders ernst nehmen sich die Frauen aus, die noch die alte Trauertracht tragen. Am Grabe werden anfangs die beiden ersten, nach der Einsegnung die beiden letzten Strophen des Liedes 'Nun lasset uns den Leib begraben' gesungen. Nach der Trauerfeierlichkeit versammelt sich die Gemeinde noch einmal in der Kapelle [gemeint ist die damalige Kapelle an der Hauptstraße, heute Dorfplatz]. Hier vereinigen sich die Gedanken noch einmal in Lied und Predigt in dem Ernst der Stunde, und die Verlesung des Lebenslaufes läßt noch einmal das Bild des Verstorbenen vor dem inneren Auge entstehen. Während des Ganges zum Friedhof, der auf einem Grundstück von Siekmeyer No. 4 im Jahre 1900 angelegt wurde, haben die Nachbarn die Diele schnell umgewandelt. Weißgedeckte Tische mit Kaffeetassen und lose auf das saubere Tischtuch geschüttete 'Likenstuten' [Leichenstuten] laden die von auswärts gekommenen Trauergäste zur Stärkung ein. Der Kantor spricht das Gebet, man ißt in ernster Schweigsamkeit, singt noch einige passende Strophen und geht nach dem Schlußgebet des Kantors noch eben bei den Verwandten vor, die in Nettelstedt wohnen, und dann der Heimat zu. Es ist üblich, daß bei Kindern kein Pastor kommt. Sie werden vom Kantor beerdigt. Vor ungefähr 40 Jahren gab es für die von auswärts kommenden Trauergäste Erbsensuppe und einige Zeit früher wurde während des Gesanges Schnaps und Bier rundgereicht. Alte Leute erzählen, daß es früher auch Sitte gewesen sei, sich nach der Beerdigung im Wirtshaus zu treffen. Man nannte das 'das Fell versaufen'. Die 'gute alte Zeit' war doch manchmal recht rauh in ihren Gebräuchen."
In anderen Dörfern im Umfeld Lübbeckes gab es einst ähnliche Sitten. Der Gehlenbecker Rektor Karl Rasche hielt noch um 1935 in seinen heimatkundlichen Beiträgen fest, dass dort bis um 1880 Totenwachen durch die Nachbarn üblich waren. "Da saß man anfangs ernst beieinander in der Stube, besprach den Trauerfall und die Vergänglichkeit alles Irdischen. Dabei ging die Schnapsflasche herum. Es wurde mit der Zeit lebhafter und lauter. Gesundes Leben brach sieghaft durch und nichts an der Gesellschaft verriet mehr, dass nebenan still auf dem Strohlager ein Toter ruhte." Mit dem Strohlager ist die Aufbahrung des Verstorbenen auf der Deele gemeint. Bis zur Fertigstellung des Sarges wurde der Leichnam auf Strohballen aufgebahrt, über die ein Eichenbrett gelegt worden war. "Bis Mitternacht blieb so die Totenwache zusammen. Dann gingen die meisten nach Hause, nur einige blieben zurück und hielten bis in die Morgenzeit aus." In den Gesprächen ging es so manches Mal auch um Vorgesichter, "Ahnungen" und das unheimliche Gefühl, mit "Gevatter Tod" oder "Freund Hein" in einem Hause zu sein. So war es auch üblich, unmittelbar nach dem Eintritt des Todes im Sterbezimmer die Oberlichter der Fenster zu öffnen, damit die Seele des Verstorbenen leicht zum Himmel schweben könne. Diese Sitte findet sich in einigen Familien noch heute. Auch die Vorstellung, dass ein kurz vor dem Wochenende Verstorbener, der erst nach dem Sonntag beigesetzt wird, weitere Sterbefälle nach sich zieht, ist noch verbreitet. Gleiches gilt, wenn das früher nur an Sonntagen übliche weiße Tischtuch versehentlich liegen blieb. Dann verwandelte es sich in der Vorstellung der Menschen sehr schnell zu einem Leichentuch.
Das 'letzte Hemd', das Totenhemd, hat zwar bekanntlich keine Taschen, war jedoch eine Frau verstorben, kleidete man diese in der Regel in ihre Abendmahlstracht. Besaß die Verstorbene eine Bernsteinkette, legte man sie ihr an. Diese Ketten, meist bestanden sie aus auffallend großen Steinen, waren ein besonderer Schmuck. Daher wurden sie zu Lebzeiten nur zu hohen Festtagen, Hochzeiten und Abendmahlsfeiern, angelegt. Im Museum der Stadt Lübbecke sind solche Ketten, 'Krallenketten' genannt, noch zu sehen. Auch eine Spanschachtel, von der Braut als Aussteuer mit in die Ehe gebracht und genutzt zur Aufbewahrung des Leichenhemdes, findet sich dort. Den Sarg fertigte früher der örtliche Tischler an. In vielen Fällen nutzte er dafür Bretter, die im Trauerhause manchmal bereits jahrelang eigens für diesen Sterbefall aufbewahrt worden waren. Andere Arbeiten hatten zu warten, bis der Sarg fertig war. Schwarz verhüllte Pferde zogen dann bei der Beerdigung den Sarg, der auf einem mit schwarzen Tüchern verhängten Leichenwagen stand, über den "Likweg", den "Leichenweg" zum Friedhof. Gesenkten Hauptes folgte der Trauerzug. Die Tonstraße in Lübbecke erinnert noch an diese Sitte. Schließlich hatte man die Friedhöfe ursprünglich immer in unmittelbarer Nähe der Gotteshäuser angelegt. Nach der Vorstellung "Näher mein Gott zu dir" hoffte man, leichter der Seligkeit teilhaftig werden zu können, wenn man möglichst dicht an der Kirche und den darin aufbewahrten Reliquien beerdigt wurde. Um zum Friedhof zu gelangen, nutzte man in Lübbecke auf diesem letzten Weg die Tonstraße, früher als "Totenstraße" bekannt.
Überhaupt spielte der Leichenwagen damals eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft, wie ja bereits das Beispiel aus Nettelstedt gezeigt hat. Auch im Kirchspiel Blasheim war das Leben der Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt von Sorgen und Nöten. Kranken- und Rentenversicherung? Arbeitslosengeld? Gab es nicht. – Mahlzeiten, bei denen sich alle satt essen konnten, waren selten. Die beiden unverheirateten Schwestern Caroline und Luise von der Recke planten daher, einen 'Zufluchtsort für die Hilflosesten unter den Bedürftigen' – also für unversorgte Kinder, Alte und Kranke – zu schaffen. Im Jahre 1856 zogen die ersten Bewohner in das Haus ein, das bis heute als "Obernfelder Pflegeheim" dem Wohle alter und kranker Menschen dient. Bedeutsam für die Bewohner war natürlich, dass sie während ihres Lebens liebevoll betreut und versorgt wurden. Ebenso wichtig war es aber vielen, dass sie nach ihrem Ableben nicht als "Stille Leiche", also ohne kirchliche Zeremonien, beigesetzt wurden. Zumindest zu einer "Gewöhnlichen Leiche" sollte es reichen, bei der der Pastor, der Lehrer und singende Schüler mitwirkten und zu der selbstverständlich auch eine Predigt gehörte. Verstorbene Bewohner des Pflegehauses in Obermehnen aber wurden sogar mit einer "Großen Leiche" zur letzten Ruhe geleitet. Für deren letzte Fahrt stellte die Familie von der Recke nämlich regelmäßig einen vierspännigen, mit frischem Grün geschmückten Leiterwagen zur Verfügung. Zudem wurde nicht nur auf dem Friedhof bzw. in der Kirche, sondern auch im Trauerhause gepredigt. Zwischen 1884 und 1929 versah Pfarrer Husemann, der aus Gehlenbeck stammte, seinen Dienst in der Kirchengemeinde Blasheim. In seinen Lebenserinnerungen hielt er 1935 fest, dass er während dieser Zeit im Kirchspiel Blasheim grundsätzlich an jeder Beerdigung als Seelsorger mitgewirkt habe, auch bei den so genannten "Stillen Leichen". Die Beerdigungskosten wurden seinerzeit noch danach abgerechnet, in welcher Weise Pastor, Kantor oder Lehrer an der Beisetzung mitwirkten.
Rektor Rasche erinnerte etwa zeitgleich daran, dass die Nachbarn bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch selbst das Grab für den Verstorbenen aushoben. "Um nun sicher zu gehen, daß man beim Auswerfen des Grabes nicht etwa auf einen alten Sarg stieß, tastete man den Begräbnisplatz vorher mit einem 'Foilisan' [Fühleisen] ab." Dieses war zum Beispiel in Alswede ein Erdbohrer mit sehr weitem Gewinde. Fand man trotz aller Vorsicht doch noch die sterblichen Überreste früher Verstorbener, sammelte man sie ein und warf sie in das so genannte "Beinhäuschen", das an den Kirchen angebracht war. Dabei handelte es sich im Lübbecker Land um kleine Gebäude ohne Fenster, die oben mit Öffnungen versehen waren. War das Beinhäuschen voll, wurden alle darin befindlichen sterblichen Überreste erneut beigesetzt. Die Menschen gingen seinerzeit jedoch noch ganz anders mit dem Tod um. Er war Teil des täglichen Lebens. Die niedrige Lebenserwartung, die hohe Kindersterblichkeit und die häufigen Todesfälle junger Mütter im Kindbett führten jedem die eigene Sterblichkeit immer wieder deutlich vor Augen. Wohl dem, der dann ausgerüstet mit den Sterbesakramenten oder gestärkt durch die Feier des Abendmahls, im Kreise seiner Angehörigen verschied!
In der fast 30.000 Aufnahmen umfassenden Fotosammlung des Stadtarchivs Lübbecke finden sich einzelne Aufnahmen von Verstorbenen nach deren Aufbahrung im Trauerhause. Andere Fotos zeigen die Angehörigen des Verstorbenen, festlich gekleidet und mit traurig-feierlicher Miene, neben dem Sarg stehend. Mit einer solchen Aufnahme schuf man eine bleibende Erinnerung an den Verstorbenen. Vor dem Aufkommen der Fotografie hingegen spielte das abgeschnittene Haar des Verstorbenen eine wichtige Rolle bei einem Sterbefall. Das Haar galt bereits in vorchristlicher Zeit als der Teil des Menschen, der die ganze Person symbolisierte. War man im Besitz der Haarlocke eines Menschen, hoffte man, Macht über ihn zu gewinnen. Daher galt es als Liebesbeweis, Locken oder aus Haar gefertigten Schmuck zu verschenken. Auch Haare Verstorbener wurden häufig zu Bildern und Schmuck verarbeitet. So bewahrte man die Erinnerung an die Toten und machte diese Menschen damit gleichsam unsterblich. Besonders im 19. Jahrhundert tauchten häufig Haarbilder auf. Mit der Aufklärung verlor die magische Bedeutung des Haares an Kraft. Das Aufkommen der Fotografie drängte die Anfertigung von Haarbildern zurück. Einige Haarbilder blieben jedoch bis heute im Bestand des Museum der Stadt Lübbecke erhalten. Sie gemahnen, ebenso wie dort ausgestellte Grabfunde, die Mitte der 1920er Jahre in Tonnenheide entdeckt wurden, an die Vergänglichkeit des Lebens. Damals hatten Bauern, als sie mit ihren Pferden die Felder pflügten, mehrfach Urnen und Knochenreste entdeckt. Es stellte sich heraus, dass die Landwirte auf Grabdenkmäler der frühen Eisenzeit (nach 800 vor Christus) gestoßen waren, die man bis 300 vor Christus weiter genutzt hatte. Längst waren die Menschen zu dieser Zeit sesshaft geworden und lebten in gut geschützten kleinen Siedlungen nahe beieinander. Verstorbene verbrannte man damals offenbar an festgelegten Brandstätten und setzte dann die Knochenreste sorgfältig in getöpferten Urnen bei. Nach der Bestattung schüttete man über den Urnen Grabhügel auf, die zum Schluss etwa 1 Meter hoch waren und manchmal einen Durchmesser von über 10 Metern besaßen.Sogar Grabbeigaben lassen sich nachweisen. Daran knüpfen heutige Traditionen an, wenn dem Verstorbenen nach der Aufbahrung Blumen in die gefalteten Hände gelegt werden. Heute wird es auch nicht mehr ungewöhnlich empfunden, wenn die Angehörigen einen persönlicher Gruß, sei es ein Bild, einen Brief, ein Schmuckstück oder Ähnliches vor dem Schließen des Sarges zu dem Verstorbenen legen.
Schon immer war das Zusammenleben der Menschen bestimmt vom täglichen Miteinander. Im Bewusstsein, dass sie als Gemeinschaft aufeinander angewiesen waren und dass sich der eine auf den anderen verlassen konnte, verlebte man frohe Stunden gemeinsam und stand sich im Trauerfalle bei. In den Gottesdiensten der christlichen Kirchen wird heute, wie schon zu Zeiten der Urgroßeltern, im Sonntagsgottesdienst der in der letzten Woche Verstorbenen im Fürbittegebet gedacht und auch die im November anstehenden Gedenktage sind Teil der Tradition. Mancher hält dann vielleicht einen Augenblick inne, besucht die Friedhöfe oder betrachtet sinnend alte Denksprüche, wie sie auch in die Eingangsbalken von Fachwerkhäusern geschnitzt wurden. Einer von ihnen lautet: "Wer aus- und eingeht denke dran, daß er noch heute sterben kann."