Als am 30. September 1899 der Lübbecker Bahnhof eröffnet wurde, gab es nicht nur erfreute Gesichter. Der Plan, eine Bahnlinie an Lübbecke vorbei von Bünde über Levern und Dielingen nach Lemförde zu führen, war gescheitert. Die zuständigen Behörden hatten sich für eine Bahnstrecke über Lübbecke nach Bassum-Bremen entschieden.
In Lübbecke wurde etwa zur gleichen Zeit ein Verein gegründet zur Förderung einer Kleinbahn von Lübbecke über Alswede, Levern, Westrup nach Dielingen mit Anschluss an die Osnabrück-Bremer Staatsbahn. So die Zielvorstellung des Vereins. Die Lübbecker Stadtverordneten beschlossen am 16. September 1898, sich für den Bau einer Kleinbahn von Lübbecke über Levern nach Lemförde einzusetzen. Auch Amtmann Schauhoff in Levern unterstützte das Bemühen, weil er sich von einer über Levern führenden Bahn wirtschaftliche Vorteile für seinen Amtsbezirk und darüber hinaus für die benachbarte Region versprach. Er wurde in seinem Vorhaben von den Gemeinden Levern, Destel und Niedermehnen unterstützt.
Arnold Upmeyer, Vorsitzender des Lübbecker Fördervereins, fragte am 15. April 1898 bei den Amtmännern in Alswede, Levern und im Amtsverbund Dielingen-Wehdem an, ob sie bereit seien, die Kosten für eine Projektberechnung mit zu tragen. Die Alsweder lehnten eine Beteiligung ab mit der Begründung, eine Kleinbahn sei für sie überflüssig. Der Bahnhof in Gestringen reiche für sie aus. Unterschiedliche Meinungen gab es in Dielingen-Wehdem. Die Gemeinden Dielingen und Arrenkamp hielten das Projekt für wünschenswert und stimmten zu, Haldem und Westrup lehnten ab. Wehdem stimmte unter Vorbehalt zu. Die Gemeinde wünschte eine Streckenführung unter Benutzung des Wehdemer Mühlenweges, um so die Bahnstrecke näher an Wehdem heranzuführen. Außerdem wollte man auf diesem Wege eine Enteignung von Grund und Boden vermeiden. In einem Punkt waren sich alle Bauern einig. Eine Enteignung von Grund und Boden kam für sie ohne Gegenleistung der Kommunalverwaltungen nicht in Frage. Auf eine Abstimmung in der Versammlung des Amtsverbundes Dielingen-Wehdem wurde verzichtet. Das Projekt wäre mit Sicherheit abgelehnt worden.
Freiherr von der Horst auf Hollwinkel stand einem Bahnbau ablehnend gegenüber. Mit wenigen Worten brachte der Freiherr seine Ablehnung zum Ausdruck. In einem Schreiben an Amtmann Schauhoff hieß es: „Für Kleinbahnen kann ich mich nicht begeistern und bin grundsätzlich gegen die Förderung dieser die Landwirtschaft schädigenden Verkehrsanstalten.“
Manchem Gemeindevertreter war der Eisenbahnbau ohnehin suspekt. Sie befürchteten bei ohnehin knappen Haushaltsmitteln zusätzliche Kosten. Der Ausbau von Wegen und Straßen war für sie schon Last genug. Da eine Eisenbahn im Nordkreis auf wenig Gegenliebe stieß, schien das Projekt gescheitert zu sein. Die Befürworter gaben jedoch nicht auf.
Nachdem Lübbecke 1907 an das Netz der Mindener Kleinbahnen angeschlossen worden war, erhielten die Eisenbahnbefürworter um Amtmann Schauhoff neuen Auftrieb. Auch der Lübbecker Bürgermeister Pütz bemühte sich um die Weiterführung der Minden-Lübbecker Kleinbahn in Richtung Levern und darüber hinaus.
Die Mindener Kreisbahnen zeigten sich an einer Weiterführung der Kleinbahnstrecke Minden-Lübbecke in den Lübbecker Nordkreis interessiert. Inzwischen trat die Konkurrenz auf den Plan. Der Rahdener Amtmann Berg brachte eine andere Linienführung ins Gespräch, die Rahden begünstigen sollte. In Rahden dachte man an eine Streckenführung, die, von Rahden ausgehend, südlich der Stemweder Berge verlaufen sollte mit Anschluss an die Staatsbahn Osnabrück-Bremen.
Am 30. April 1909 bat die Lübbecker Stadtverwaltung den Mindener Kreisausschuss, der mit dem Kleinbahnbau der Strecke Lübbecke-Minden befasst gewesen war, um eine Stellungnahme. Pütz meinte, sein Anliegen historisch begründen zu können, indem er den Kreisausschuss auf eine angeblich jahrhundertealte Arbeit- und Geschäftsbeziehung der Gemeinden im nordwestlichen Teil des Kreises Lübbecke mit der Stadt Lübbecke hinwies. Eine Eisenbahnverbindung würde nach Ansicht von Bürgermeister Pütz die Beziehung noch verstärken. Der Mindener Kreisausschuss schloss sich der Ansicht des Bürgermeisters an und ließ den Lübbecker Magistrat wissen, dass es besser ist, durch eine Kleinbahn den Verkehr aus dem Nordwesten des Kreises Lübbecke an die Stadt Lübbecke heranzubringen, als ihn durch eine Bahn Rahden-Bohmte nach Osnabrück abzudrängen.
Es war Pütz bekannt, dass viele Bewohner der genannten Ämter, besonders die in Levern und Dielingen, Osnabrück als nächste Einkaufsstadt sahen. Nach Bohmte war es nicht weit. Osnabrück war in kurzer Zeit per Eisenbahn erreichbar. Im Übrigen verkannte Pütz eine historische Tatsache. Für Lübbecke war, historisch gesehen, Osnabrück einmal ein wichtiger Handelsplatz gewesen. Der Lübbecker Handel mit handgefertigten Garnen lief vor der Industrialisierung über Osnabrück, von dort aus weiter nach Elberfeld und Barmen sowie ins belgische Brabant. Vor der Umstellung auf preußische Maße benutzten Lübbecke und sein Umland Osnabrücker Gewichtsmaße. Der in den Berichten zur Erschließung des nordwestlichen Teiles des Kreises Lübbecke und der immer wieder auftauchenden Befürchtung, Kaufkraft könnte nach Osnabrück abfließen, hängt mit der jüngeren Geschichte zusammen, als Preußen im merkantilistischen Sinne versuchte, den Handel mit dem benachbarten Königreich Hannover zu unterbinden, was, wirtschaftlich gesehen, Unsinn war. Die Maßnahme löste einen regen Grenzschmuggel aus.
Es war sogar behördlich angeordnet, Kutschen der königlich-hannoverschen Post, sobald sie auf dem Weg nach Osnabrück den Nordkreis Lübbecke passierten, behördlicher Willkür auszusetzen. Die Fenster mussten verhängt und die Türen verschlossen werden. Was das bei brütender Sommerhitze für die Fahrgäste zur Folge hatte, kann sich jeder ausmalen.
Natürlich hatte die Industrie von den Plänen einer Streckenerweiterung Wind bekommen und bot ihre Dienste an. Die Bahnindustrie AG mit Sitz in Hannover-Herrenhausen machte am 14. September 1910 dem Lübbecker Bürgermeister Pütz ein Angebot und schrieb: „Wir sind gerne bereit, evtl. kostenlos sämtliche erforderlichen Vorverhandlungen in die Wege zu leiten.“ Die Gesellschaft war auch bereit, sich an der Finanzierung zu beteiligen.
In Lübbecke war man gewillt, Verhandlungen aufzunehmen. Am 27. September besuchte Ingenieur Matejka die Herren des Lübbecker Magistrats, um sich über den Stand der Planung zu informieren.
Am 8. April 1911 tagte die Lübbecker Kommission unter Vorsitz von Senator Müller. Sie war über die Verhandlungen mit der Bahnindustrie AG informiert worden und sprach sich dafür aus, die Verhandlungen weiterzuführen und Versammlungen in Lübbecke, Levern und Fiestel einzuberufen. Auf jeden Fall sollten die Amtmänner und die Ortsvorsteher eingebunden werden.
Die Regierung Minden förderte das Projekt und rief Lübbecke, Levern und Lemförde auf, sich um eine regierungsamtliche Genehmigung zu bemühen. Es gab jedoch, wie schon Jahre vorher, erhebliche Widerstände, namentlich unter den Bauern und den Großgrundbesitzern, die Enteignungen und Zerschneidung ihrer Acker-, Wiesen- und Waldflächen befürchteten.
Auch die Handelskammer Minden wurde aktiv. Am 29. Mai 1911 lud sie zu einer öffentlichen Aussprache in das Deutsche Haus an der Langen Straße in Lübbecke ein. Anwesend waren die Landräte der Kreise Lübbecke und Minden, der Lübbecker Bürgermeister sowie die Amtmänner aus Dielingen-Wehdem, Levern und Rahden. Die Handelskammer war durch ihren Vorsitzenden Kommerzienrat Meyer und Syndikus Hindenberg vertreten. Zahlreiche Zuhörer aus Stadt und Kreis hatten sich eingefunden. Mehrere Möglichkeiten einer Streckenführung wurden vorgestellt. Wer auf Einigkeit gehofft hatte, sah sich bald enttäuscht. Die Redebeiträge waren von Lokalpolitik und privatem Interesse geprägt. Der Lübbecker Bürgermeister Pütz konnte nach Ende der langatmigen Debatte nur feststellen, dass es der Wunsch der anwesenden amtlichen Vertreter gewesen sei, die inzwischen fertiggestellte Bahnstrecke Nienburg-Rahden bis nach Dielingen weiterzuführen und die Kleinbahn Minden-Lübbecke über Lübbecke hinaus bis zu einem Schnittpunkt mit der Strecke Rahden-Dielingen auszubauen. Über welche Orte die Bahnlinien geführt werden sollten, blieb offen. Da hatte jeder so seine eigenen Vorstellungen.
Die Lübbecker Verkehrskommission versuchte trotz aller Misshelligkeiten, ihre Vorstellungen umzusetzen und wandte sich an den Mindener Landrat Dr. Cornelsen in der Hoffnung, seine Erfahrungen beim Bau der Kleinbahn Minden-Uchte zu nutzen. Besonders interessiert war die Kommission an den anteiligen Kosten, die die betroffenen Gemeinden zu tragen hatten. Dr. Cornelsen gab das Ersuchen an das Amt Petershagen weiter. Der Lübbecker Kommission wurde geraten, darauf hinzuwirken, Grund und Boden von den Gemeinden anzukaufen, um den betroffenen Bauern und Grundeigentümern das Land später im Austausch anbieten zu können.
Die Vorstellungen der Handelskammer Minden zur Führung einer Bahnlinie von Lübbecke über Levern in den Nordkreis ließen nicht lange auf sich warten. Am 24. Oktober 1911 teilte die Kammer der Lübbecker Verkehrskommission mit, dass ihres Erachtens die Kleinbahnlinie folgende Führung haben müsse unter der Voraussetzung, dass die Strecke Rahden-Dielingen realisiert werde. Die Kammer schlug folgende Linienführung vor: Stockhausen, Alswede, Hollwinkel, Hedem, Lashorst, Destel, Levern, Niedermehnen.
Inzwischen trat ein Konkurrenzunternehmen in Erscheinung. Eine mögliche Eisenbahnverbindung von Melle bis Rahden sorgte für Gesprächsstoff. Besorgt teilte die Lübbecker Kommission am 18. Februar 1912 der Stadtverwaltung mit, die Gefahr bestehe, dass dadurch die für Lübbecke so ausserordentlich wichtige Kleinbahnlinie Lübbecke-Levern-Lemförde in den Hintergrund treten würde.
Das Lübbecker Kreisblatt äußerte sich in seiner Ausgabe vom 22. Oktober 1912 zu einer Weiterführung der Bahnstrecke Nienburg-Rahden durch den Lübbecker Nordkreis mit Anschluss an die Hauptstrecke Osnabrück-Bremen. Das Blatt war der Meinung, die Planung könne erst dann Erfolg haben, wenn ein Beschluß über die kosten- und lastenfreie Hergabe des Grund und Bodens zum Bahnbau vorliege. In dem Artikel hieß es weiter: „Es liegt also jetzt allein bei unserer Kreisvertretung, ob der Norden bald die so sehr notwendige Bahn erhält, oder ob er noch weiter von allem Verkehr abgeschlossen bleiben soll. Von den Dörfern am Stemmer Berge zur Kreisstadt Lübbecke und zurück ist es mit der Bahn eine Tagesreise, nach Minden und zurück langt es nicht mit einem Tage. Was nützen die Einrichtungen des Kreises, z. B. Kreiskrankenhaus, wenn wegen der umständlichen Reise kein Gebrauch davon gemacht werden kann.“
Am 29. Oktober 1912 erschien im Lübbecker Kreisblatt ein Artikel, den Amtmann Schauhoff verfasst hatte. Er war der Meinung, dass die Weiterführung der Bahn Nienburg-Rahden über Meesenkamp und Levern nach Bohmte so gut wie abgesichert sei. Das Amt Levern, so seine Meinung, könne davon wirtschaftlich nur profitieren. Gemeint waren die Sägemühle und Dampfziegelei in Destel sowie die vier Ziegeleien in Niedermehnen. Auch zum Bergbau wusste Schauhoff etwas zu berichten und schrieb: “In der Gemeinde Sundern, wo sich noch ein alter Kohlenschacht befindet, wo seinerzeit schon gute Kohlen gefunden worden sind, aber wegen fehlender Mittel seitens der Gesellschaft wieder eingestellt wurde; dieser [Schacht] könnte evtl. dann wieder ins Leben gerufen werden. Auch in Destel befindet sich ein solcher Schacht und so könnten sich im Amte Levern noch viele industrielle Betriebe mit Erfolg anlegen lassen, wenn die Bahn gebaut würde“ Weiter glaubte Schauhoff, Viehhandel und die Einfuhr von Futter- und Düngemitteln könnten von einer solchen Linienführung nur profitieren. An Levern führte nach Meinung Schauhoffs kein Weg vorbei.
Im Rahdener Wochenblatt hörte sich die Angelegenheit ganz anders an. Der Ort Levern sollte kein Stationsort werden. Für die Rahdener kam nur die Strecke Rahden-Drohne in Frage. Zum Ausgleich sollte Levern über eine Bahnstation auf halber Strecke auf der Kreisstraße zwischen Arrenkamp und Levern an der Steinbrücke eine Bahnstation erhalten. Ausgang aller Überlegungen müsse Rahden sein. Das Wochenblatt zitierte in seiner letzten Oktoberausgabe vom Jahre 1912 aus folgendem eingesandten Bericht: „Gerade Rahden kann am besten beurteilen, welche Bedeutung gute Eisenbahnverbindungen für einen Ort gewinnen können. Für die gegebenen Verhältnisse ist es doch ein gewaltiger Aufschwung, den Rahden seit dem ersten Bahnbau Bünde-Bassum genommen hat. Hat es doch die Kreisstadt fast überflügelt. Rahden wird bald der Hauptplatz, nicht nur des Nordens, sondern des ganzen Kreises werden. Diese Stellung muß sich Rahden dadurch sichern, daß es für gute Verbindung mit einem kaufkräftigen Hinterland sorgt.“ Das gefiel den Lübbeckern nun gar nicht. Auch Amtmann Schauhoff stand den Rahdener Plänen reserviert gegenüber. Levern sollte eine Bahnstation direkt vor der Haustür haben. Das war Schauhoffs erklärter Wille. Davon ließ er sich nicht abbringen.
Am 2. November 1912 fand eine Versammlung im Saal des Gasthofes Rosengarten auf Schepshake statt, zu der der Arrenkamper Ortsvorsteher Lilie geladen hatte. Auf dieser Versammlung, zu der sich etwa 600 Personen eingefunden hatten, sollte es bei Bier, Schnaps und Tabakqualm hoch hergehen. Die Eisenbahnfreunde hatten einen schweren Stand.
Die Versammlung wurde von dem Arrenkamper Lehrer Madsen begrüßt, einem Befürworter der Bahn. Seiner Meinung nach war es reiner Egoismus, die Bahn abzulehnen. Er dürfte damit die Bauern im Sinn gehabt haben, die um den Verlust von Grund und Boden fürchteten. Madsen rief der Versammlung zu: „Weiter kämpfen und nicht müde werden für die Strecke Rahden-Drohne.“
Der Dielinger Pfarrer Bartmann hatte es sich nicht nehmen lassen, an der Versammlung auf Schepshake teilzunehmen. Er verhielt sich neutral und vermied es, in den Hickhack der streitenden Parteien einzugreifen. Er trat für beide sich verbindende Linienführungen ein. Eine Strecke Rahden-Drohne sollte seiner Meinung nach mit einer Kleinbahnstrecke von Lübbecke über Levern in Richtung Westrup verbunden werden. Im Amt Dielingen, so Pfarrer Bartmann, sei man von der Kreisstadt Lübbecke und der Gerichtsstadt Rahden so weit entfernt, dass es kaum möglich sei, an einem Tag hin- und zurückzukommen. Pfarrer Bartmann gehörte also zu den Befürwortern der Bahn.
Nach Bartmann ergriff Regierungsassessor v. Borries das Wort, der als Vertreter des verhinderten Landrates an der Versammlung teilnahm. Dieser hatte die Versammlung wohlweislich gemieden. Sein Vertreter wollte Sicherheit über die Streckenführung haben. Wo sollte die Anschlussstrecke Nienburg-Rahden enden? In Bohmte oder in Drohne? Die Eisenbahndirektion Münster, so der Redner, verlange klare Aussagen. Und genau in diesem Punkt tat sich die Versammlung schwer. Die Spannung im Saal stieg sichtlich an, als der Redner erklärte, dass der Landrat die Strecke Rahden-Wehdem-Levern-Bohmte für die günstigste halte. Wegen ihrer Nähe zu Lemförde könnten Haldem und Dielingen übergangen werden. Die Arrenkämper könnten den Bahnhof Wehdem nutzen. Auf jeden Fall sollte Levern einen Bahnhof bekommen. Diese Feststellung stieß, aus welchen Gründen auch immer, auf heftigen Widerstand. Die Aussprachen gerieten in ein emotionelles Fahrwasser. Bauer Steinkamp, Hartenfelde Nr. 1, griff in die Diskusion ein und fragte den Redner, ob denn Oppendorf und Oppenwehe nicht zum Kreis Lübbecke gehörten.
Als Syndikus Hindenberg von der Handelskammer Minden das Wort ergriff, trieb der Meinungsaustausch, von ein paar Schnäpsen angefeuert, seinem Höhepunkt entgegen. Wie das Kreisblatt später zu berichten wusste, hatte Syndikus Hindenberg dem Landrat Wortbruch vorgeworfen und betont, nur die Handelskammer könne aus ihrer Erfahrung beurteilen, welchen Verlauf eine Bahnlinie nehmen müsse, um den wirtschaftlichen Gegebenheiten gerecht zu werden. Damit sprach er dem Landratsamt die Kompetenz ab. Auf jeden Fall, so Hindenberg, müsse die Bahn da gebaut werden, wo die Leute wohnten. Jedoch dürfe sie auf keinen Fall durch die Bohmter Heide geführt werden, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Hindenberg setzte noch einen drauf, indem er darauf hinwies, dass in Lübbecke die Verbindung Rahden-Drohne seinerzeit beschlossen worden sei mit einer Kleinbahnanbindung von Lübbecke über Levern hinaus bis zu einem Schnittpunkt mit der erstgenannten Verbindung.
Die Versammlung im Saale Rosengarten geriet zu einem heillosen Durcheinander, wobei ein paar weitere Schnäpse die Gemüter animierten, wie es im Lübbecker Kreisblatt später hieß. Schließlich und endlich wurde die dem Landrat genehme Linienführung bis Bohmte verworfen mit der Begründung, dass die Bohmter Heide praktisch unbesiedelt sei und damit für den Personenverkehr ausscheide.
Der Landrat war gekränkt und empört, als er von den Vorfällen auf Schepshake hörte und erklärte auf einer nur wenige Tage später angesetzten Versammlung in Levern: „Zu meinem tiefen Bedauern habe ich davon Kenntnis erhalten, daß man mir in Haldem [gemeint ist Arrenkamp] vor etwa 600 Kreiseingesessenen vorgeworfen hat, daß ich in der Frage der Fortführung der Bahn Nienburg-Rahden mein Wort nicht halte. Diese mich schwer beleidigenden Äußerungen haben in den tatsächlichen Vorgängen keinerlei Begründung.“
Die Entschuldigung ließ nicht lange auf sich warten. Syndikus Hindenberg erklärte im Lübbecker Kreisblatt, dass er auf der Versammlung bei Rosengarten über die veränderte Stellungnahme des Landrates zu dem Bahnprojekt lediglich überrascht gewesen sei, jedoch habe er dem Landrat niemals Wortbruch vorgeworfen. Damit war der Streit verbal aus der Welt geschafft, aber nicht beigelegt – im Gegenteil.
Der Landrat nahm sich der Sache jetzt persönlich an und ließ sich Kreiskarten und Messtischblätter vorlegen. Mit Lineal und Zirkel machte er sich an die Arbeit, um Abstände und Zugangsbereiche auszumessen. Er kam abschließend zu dem Schluss, dass sich die Bahnlinie Rahden-Wehdem-Levern-Bohmte geradezu aufdränge.
Eine direkte Bahnverbindung zwischen Rahden und Bohmte im nördlichen Teil des Kreises Lübbecke gefiel dem Lübbecker Förderverein überhaupt nicht. Deshalb sprach der Lübbecker Magistrat beim Landrat vor. Am 14. November 1912 kam es zu einem Treffen mit Landrat von Ledebur. Die Lübbecker Seite war durch die Senatoren Upmeyer, Kaupmann und Müller vertreten. Sie gaben dem Landrat zu bedenken, dass die angedachte Bahnlinie Rahden-Drohne, bzw. Rahden-Levern-Bohmte nicht im Interesse der Stadt Lübbecke sei. Die Stadt fürchte, so die Lübbecker Herren, Schaden zu nehmen. Das gelte auch für den Kreis Lübbecke. Die Lübbecker Seite befürchtete wegen der miserablen Verkehrsverhältnisse die Ausgliederung des Amtes Levern aus dem Gerichtssprengel Lübbecke zugunsten des Gerichtsortes Rahden. Auch die Zuständigkeit des Katasteramtes könnte nach Lübbecker Meinung betroffen sein, falls diese Regelung in Kraft treten und das Amt Levern dem Katasteramt Rahden zugeschlagen würde. In den Augen der Lübbecker gab es nur einen Ausweg, eine Kleinbahn, die, von Lübbecke ausgehend, über Levern nach Westrup geführt würde. Die Lübbecker fürchteten also die Rahdener Konkurrenz. Vergessen war noch nicht, dass Rahden einmal Verwaltungsmittelpunkt des gleichnamigen Kreises gewesen war, zu dem auch Lübbecke gehört hatte. Vergessen war jedoch, dass der Kreisort Rahden praktisch nur auf dem Papier bestanden hatte. Landrat Georg von dem Bussche hatte seinen Amtsbezirk von seinem Hausgut Benkhausen aus verwaltet.
Am 19. November 1912 wandte sich die Handelskammer Minden in einem Schreiben an das Berliner „Ministerium der öffentlichen Arbeiten“, nachdem das Ministerium die Eisenbahndirektion in Münster damit beauftrag hatte, Vorermittlungen anzustellen über den Verlauf einer Nebenbahn von Rahden ausgehend mit Anschluss an die Staatsbahn Osnabrück-Bremen. Nach Meinung der Kammer standen vier Linienführungen zur Disposition, nämlich
Die Mindener Kammer favorisierte die Bahnführung von Rahden über Arrenkamp nach Drohne und begründete dies mit einem gewissen Notstand des Amtsverbundes Dielingen-Wehdem, hervorgerufen durch die langen Anfahrtswege nach Dielingen bei amtlichen und anderen Gelegenheiten. Dielingen war Sitz des Amtsverbundes Dielingen-Wehdem. Alle genannten Gemeinden außer Sielhorst, das zum Amt Rahden gehörte, hatten das gleiche Problem. Dielingen war Sitz eines Postamtes. Arzt und Apotheke waren ebenfalls am Ort. Da Dielingen im Amt Dielingen-Wehdem der westlichste Ort war, mussten lange Anfahrtswege in Kauf genommen werden. Andererseits war es ein langer Anfahrtsweg nach Rahden, wo Amtsgericht und Katasteramt ihren Sitz hatten. Noch ungünstiger war die Kreisstadt Lübbecke zu erreichen, wo sich das einzige Kreiskrankenhaus befand. Wie man es auch drehte und wendete, man konnte es keinem recht machen.
Im Amtsverbund Dielingen-Wehdem hatte sich inzwischen ein „Komitee für den Bahnbau Rahden – Drohne“ gebildet, der deutlich gegen die Pläne von Schauhoff und der Lübbecker Kommission gerichtet agierte. Dem Komitee gehörten neben den Gemeindevorstehern und einigen Bauern auch einige Lehrer an, so Lehrer Brandt aus Drohne, Verfechter eines Bahnhofes in Drohne. Die Vorteile konnte sich jeder selbst ausmalen. Ein besonders eifriger Verfechter dieser Bahnverbindung war der Dielinger Postagent Kaul, der nebenher einen Landhandel betrieb. Das Komitee wandte sich am 25. Januar 1913 in einem Schreiben an das Ministerium in Berlin, den Minister der öffentlichen Arbeiten.
Wie dem Schreiben an den Minister zu entnehmen war, gab es nur in einem Punkt Meinungsverschiedenheiten, nämlich darüber, ob die Verlängerung der Bahn Nienburg-Rahden in Bohmte im hannoverschen Amt Wittlage oder in Drohne enden sollte. Voraussetzung war, dass hier eine Bahnstation eingerichtet werden musste. Folgende Orte sollten berührt werden: Sielhorst, Oppenwehe, Oppendorf, Wehdem, Westrup, Arrenkamp, Haldem, Gut Haldem, Dielingen und Drohne.
Zur Begründung wurde u. a. angeführt:
Amtmann Schauhoff hielt an seinem Plan unverdrossen fest, eine Bahn zwischen Lübbecke und Dielingen zu etablieren, wobei Levern selbstverständlich Bahnstation sein sollte. Dabei versuchte er, die Ortsvorsteher einzubinden, denn sie waren die nächsten an Volkes Ohr. Die Sächsisch-Thüringische Eisenbahnbau und Betriebsgesellschaft mit Sitz in Eisenach wurde ersucht, eine Rentabilitätsberechnung zu erstellen. Diese ließ die Ortsvorsteher in Sundern, Harlinge, Osterheide, Luhenheide, Rümkendorf und anderen Gemeindeteilen am 4. März 1914 wissen, dass die Gesellschaft bereit sei, die gewünschte Berechnung zu erstellen. Bevor diese überhaupt zum Tragen kam, gab es eine Reihe von Bedenken. Alte Befürchtungen wurden laut, dass Ackerflächen zerschnitten würden und damit längere Anfahrtswege zu den Feldern in Kauf genommen werden müssten. Zu allem Überfluss hatte der Lübbecker Bürgermeister eine freie Hergabe von Grund und Boden gefordert, was bei den Bauern gar nicht gut ankam. Im übrigen wurde der Lübbecker Bürgermeister ohnehin verdächtigt, nur das Interesse seiner Stadt im Auge zu haben. Was interessierten den schon Harlinge und Rümkendorf?
Schauhoff argumentierte, dass sein Amtsbezirk und die angrenzenden Ämter Dielingen und Wehdem vom Verkehr so gut wie abgeschnitten seien. Landwirtschaft und Viehzucht könnten einen höheren Ertrag abwerfen, wenn der notwendige Kunstdünger für den leichten aber fruchtbaren Boden preiswerter herangeschafft werden könne, was nur über eine Eisenbahn zu erreichen sei. Auch in den Ziegeleien könnte die Produktion höher sein, wenn die Kosten für den Kohletransport nicht so hoch sein würden. Außerdem könnten Bodenschätze wie Ton und Kreide verarbeitet und kostengünstig transportiert werden. Auch die Bäder in Levern, ein Stahl- und ein Schwefelbad, dürften mit einer vermehrten Kundschaft rechnen können.
Der Kriegsausbruch Anfang August 1914 machte alle Überlegungen und Pläne überflüssig. Die Kriegswirtschaft hatte Vorrang.
Trotz der wirtschaftlichen Notlage nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fand am 5. März 1919 eine gut besuchte Veranstaltung im Deutschen Haus in Lübbecke statt. Die Versammlung wurde von dem Lübbecker Fabrikanten August Mencke eröffnet. Eine neue Situation hatte sich ergeben. Am 18. Februar 1918 hatten der Kreis und die Stadt Lübbecke einen Vertrag abgeschlossen, der eine gemeinsame Hafenbetriebsgesellschaft vorsah. Als erster ergriff Bürgermeister Pütz das Wort und wies auf die künftige Bedeutung des Lübbecker Kanalhafens hin mit der Bemerkung, dass er auch für den nördlichen Teil des Kreises von Bedeutung sein könnte. Einig war man sich darin, das bisher favorisierte Projekt einer Bahnlinie von Rahden über Levern nach Bohmte nicht weiter zu verfolgen. Stattdessen sollte mit Anschluss an den Lübbecker Hafen eine Bahnlinie von Gestringen über Levern nach Lemförde gebaut werden.
Am 12. März 1919 fand in Levern in der Gaststätte Redecker eine Versammlung statt, die von Amtmann Schauhoff geleitet wurde. Die Versammlung war mit 300 Personen gut besucht. Schauhoff und seine Anhänger sprachen sich dafür aus, die Strecke Lübbecke-Levern-Lemförde mit Anschluss an den Lübbecker Kanalhafen zu bauen.
So sah man es auch am 14. März 1919 in der Gastätte Spreen in Fiestel, wo eine Versammlung unter Vorsitz des Alsweder Amtmannes Graf von Rittberg stattfand. Etwa 200 Personen waren erschienen. Zuspruch erhielten die Befürworter am 15. März auf einer Versammlung im Gasthaus Rosengarten in Arrenkamp. Etwa 200 Personen waren erschienen.
Im Jahre 1919 wurde ein letzter Versuch unternommen, die Pläne zu realisieren. Zu diesem Zweck trat am 25. Juni 1919 unter dem Vorsitz des Dielinger Amtmannes Zell in Rahden eine Kommision zusammen. Lübbecke war mit den Fabrikanten Mencke und Vogeler sowie Kaufmann Meyer vertreten. Weitere Teilnehmer waren: Amtmann Graf von Rittberg (Alswede), Postagent Münstermann (Alswede), die Gemeindevorsteher Blome (Vehlage), Brosend (Lashorst), Hahler (Destel) und Ohlendiek (Niedermehnen), Postverwalter Kaul (Dielingen), Kaufmann Lohmeier (Wehdem), Bauer Steinkamp (Hartenfelde), Ökonomierat Bückendorf (Rahden), Amtmann Berg (Rahden), Kaufmann Wiegmann (Rahden).
Die Vorgeschichte aus der Vorkriegszeit kam wieder zur Sprache. Befürwortet wurde eine Linienführung von Lübbecke über Levern nach Lemförde oder Drohne. Es sollte eine Abzweigung von Levern in Richtung Rahden geben. Folgender Passus wurde ins Protokoll genommen: „Der früher bestandene Plan einer Bahnverbindung Rahden-Bohmte ist allseitig verworfen, weil diese Ausführung die notwenige Verbindung mit der Kreishauptstadt und besonders an deren für die Entwicklung ausserordentlich wichtigen Kanalhafen nicht bringen würde.“
Alle Planungen aus der Vorkriegszeit waren jetzt Makulatur. Folgende drei Streckenführungen wurden in Rahden beschlossen:
Linie 1. Von Bahnhof Rahden zwischen Sielhorst und Varl nördlich auslaufend. Von dort weiter nach Oppenwehe, an Hartenfeld vorbei über Berkenbüschen nach Wehdem. Endpunkt südlich von Westrup.
Linie 2. Verschiebung des Bahnhofs Gestringen nach Süden in die Nähe des Kanalhafens. Von dort nördlich an Benkhausen vorbei über die Kreisstraße Alswede-Fiestel. Bahnhof oder Haltestelle dicht am Kanal. Weiterführung in westliche Richtung mit Bahnhof dicht am Schnittpunkt Kreisstraße und Dorfstraße nach Lashorst. Von dort östlich über Destel in Richtung Evelage mit Bahnstation. Dann nördlich weiter in Richtung zum Endpunkt Westrup.
Linie 3. Von Westrup in westlicher Richtung südlich von Arrenkamp nach Haldem mit Bahnstation. Von dort südlich der Schule Haldem und südlich des Dielinger Kleis mit Einmündung zwischen Drohne und Dielingen.
Gedacht war an einen Bahnhof irgendwo zwischen Drohne und Dielingen zur Anbindung an die Staatsbahn Osnabrück-Bremen. Gegen die vorgeschlagenen Streckenführungen konnte keiner etwas einwenden, weil sie alle Dörfer und Bauerschaften sowie Güter wie Haldem, Hollwinkel, Ellerburg und Benkhausen berührte. Man hatte es also allen recht machen wollen. Es dürfte unrealistisch gewesen sein, von der Bahndirektion zu verlangen, auf der Hauptstrecke Osnabrück-Bremen zwischen Bohmte und Diepholz einen weiteren Bahnhof einzurichten.
Die Inflation machte alle Pläne zunichte. Sinnvolle Vorausberechnungen waren nicht mehr möglich. Die galoppierende Geldentwertung warf das wirtschaftliche Leben vollkommen aus dem Gleis.
Levern hatte seit dem 1. Februar 1923 einen neuen Amtmann, den aus Hüllhorst stammenden Karl Kuhlo. Unter seiner Verwaltung wurde das Eisenbahnprojekt nicht weiter verfolgt.
Die Eisenbahnprojekte zur wirtschaftlichen Förderung des Nordkreises waren im Papierkorb gelandet. Es waren nicht allein die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, die das Bahnprojekt scheitern ließen. Lokale Streitigkeiten wirkten sich auf die Fortführung des Projektes aus. So hatten die Straßenbauten Destel-Twiehausen und Sundern-Haldem zu Auseinandersetzungen geführt, die in persönlichen Anfeindungen endeten. Abgesehen von persönlichen Differenzen, war ein landwirtschaftlich orientiertes Gebiet mit einer geringen Bevölkerungszahl zu berücksichtigen. Eine bedeutende Personenbeförderung war nicht zu erwarten. Die industrielle Produktion und die Ausbeutung von Bodenschätzen hielten sich in Grenzen.
Das gut gemeinte und bei allem Vorbehalt auch wohl tragfähige Projekt wurde im Interessenkonflikt zerredet und ad absurdum geführt. Hinzu kamen alberne Kompetenzrangeleien unter den Behörden. Den übergeordneten Behörden in Minden, Münster und Berlin gingen unterschiedliche Berichte zu, die einer einvernehmlichen Entscheidung im Wege standen. Je höherrangiger die Behörde, desto weiter weg rückte der abgelegene Kreis Lübbecke und hier besonders die Region am Stemweder Berg.
Lübbecke, 14.11.2011
Quellen:
Stadtarchiv Lübbecke (zit.: StadtAL), Best. C II, 10.9.
Stadtarchiv Lübbecke, Best. Stemwede, Amt Levern 916.
Fotosammlungen im Stadtarchiv Lübbecke: Sammlung Stemwede.