Während der Ostertage des Jahres 1948 waren die Kriegsjahre noch für jeden gegenwärtig. Kriegsgefangene kehrten nach und nach zurück. Sie fanden ein heruntergewirtschaftetes und zerstörtes Land vor. Im Landschloss Hüffe hatte das Rote Kreuz eine Erholungsstätte für ehemalige Kriegsgefangene eingerichtet, die halbverhungert, verlaust und mit erfrorenen Gliedmaßen aus russischer Gefangenschaft heimgekehrt waren. Nach einer entbehrungsreichen Zeit gab es auf Hüffe trotz der Rationierung ausreichende Mahlzeiten, eine warme Stube und ein sauber bezogenes Bett, wie einer der Heimkehrer nach seinem Aufenthalt im Kreis Lübbecke berichtete.
Auch für etwas Unterhaltung war gesorgt. Ein Bus brachte die Heimkehrer gelegentlich nach Lübbecke, wo sie eine Kino- oder Theatervorstellung auf Kosten des Roten Kreuzes besuchen konnten. Zu Ostern 1948 stand ein harmloses Rührstück auf dem Programm der Bürgerpark-Lichtspiele mit der schon etwas bejahrten Henny Porten in der Hauptrolle als besorgte Mutter unter dem bezeichnenden Titel „Wenn der junge Wein blüht“. Die Hauptdarstellerin stand vor dem Problem, ihre drei Töchter im heiratsfähigen Alter unter die Haube bringen zu müssen. Es war einer jener Unterhaltungsfilme, die in den Kriegsjahren produziert worden waren, um der Bevölkerung etwas Zerstreuung zu bieten. Im Dezember 1947 hatten die Briten den Stacheldraht, der das Sperrgebiet im Stadtzentrum umgeben hatte, abräumen lassen. Ein Stück Normalität war zurückgekehrt. Die Lübbecker Geschäfte und Dienststellen waren wieder ohne Umwege zu erreichen.Wer zu dieser Zeit auf die amtlich zugelassene Lebensmittel- und Brennstoffversorgung angewiesen war, musste ein Lebenskünstler sein, um über die Runden zu kommen. Seit den Ostertagen des Vorjahres hatte sich in der öffentlichen Versorgung wenig geändert. Mais- und Mischbrot von zweifelhaftem Nährwert gehörten zum täglichen Speiseplan. Hinzu kamen harte Wintermonate mit Versorgungsengpässen in der Energieversorgung, so dass es mancher am Wochenende vorzog, im Bett zu bleiben. Die Krankmeldungen erreichten neue Höchststände. Die Produktivität sackte täglich ab, so dass in den Fabriken Feierschichten eingelegt werden mussten. Diese wurden von den Betriebsangehörigen dazu benutzt, aufs Land zu fahren, am besten zu Bekannten oder Verwandten, um hier zu überwintern. Das hatte seine Tücken. Aufenthaltsgenehmigungen wurden von den örtlichen Behörden nur selten erteilt. Das hieß, Lebensmittelkarten wurden nicht ausgehändigt, sondern nur da, wo man ordentlich gemeldet war. Also beschränkten sich viele aufs Hamstern, und wenn der Magen besonders stark knurrte aufs Betteln, Diebereien eingeschlossen.
Die Lebensmitteldiebstähle rissen auch zur Osterzeit des Jahres 1948 nicht ab. Einem Landwirt in Tonnenheide wurde zu nächtlicher Stunde der Hühnerstall aufgebrochen. Zehn Hühner und der Hahn mussten dran glauben. Sie wurden an Ort und Stelle geschlachtet, um anschließend in den Kochtopf zu wandern. Bei einer Landwirtin in Gestringen fanden Diebe über den Einstieg durch ein Seitenfenster den Weg in die Räucherkammer. Hier waren sie in einem Schlaraffenland gelandet. Die Ausbeute: 65 Würste, drei Schinken und drei Seiten Speck verschwanden in der Dunkelheit. Ein Teil davon dürfte den Schwarzen Markt bereichert haben.
Auch die ABC-Schützen waren von der Mangelwirtschaft betroffen. Die bevorstehende Einschulung zum Ostertermin löste bei den Eltern Besorgnis aus. Eine Schiefertafel war nur schwer aufzutreiben. In der Gemeinde Hüllhorst sollten 23 Kinder eingeschult werden. Der Gemeinde waren nur drei Schiefertafeln zugeteilt worden. Die Öffentlichkeit war aufgerufen, nicht mehr benötigte Tafeln bei der Schulverwaltung abzugeben. Eltern, die als Evakuierte oder Flüchtlinge in den Dörfern eine Bleibe gefunden hatten und nicht über gute Beziehungen zu einem Bauernhof verfügten, mussten ihre Kinder notgedrungen ohne Frühstück in die Schule schicken. Hier wartete in der Pause die Schulspeisung auf die bedürftigen Kinder. Viele Kinder kamen mit dem Kochgeschirr zur Schule, das einmal zur militärischen Ausrüstung des Vaters oder des Bruders gehört hatte. Die morgendliche schulische Abspeisung bestand überwiegend aus Suppen, hergestellt aus Suppenmehl. Fettaugen hatten bei dieser Suppenwirtschaft Seltenheitswert.
Im Gegensatz zu den Küchenbetrieben der britischen Besatzung war in den meisten deutschen Haushalten Schmalhans Küchenmeister. Das Kochbuch der Henriette Davidis, das in der dritten Auflage 1847 als „Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche“ erschienen war und in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Auflagen erlebte, war für die meisten deutschen Hausfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Wunderbuch der Träume geworden, das Hoffnung auf bessere Zeiten versprach. Die rührige Köchin, die von 1838 bis 1855 in Levern im "Gasthof zur grünen Linde" als Küchenmamsell tätig gewesen war, empfahl für die Ostertorte folgende Zutaten:„Man nehme 500 g geklärte Butter, 500 g gesiebten Zucker, 500 g Mehl, 16 Eier, 1 Zitrone, 1 Teelöffel Muskatblüte, 2 Teelöffel feinen Zimt, 100 g süße und 10 g bittere feingestoßene Mandeln. Man rühre die Butter mit dem Zucker zu einer dicken und schaumigen Masse und gebe nachher alle anderen Zutaten löffelweise hinzu, würze mit einem Gläschen Arrak oder Rum und lasse das Ganze in einer runden, flachen, ausgebutterten Form gelb backen.“
Welche Zutaten waren zu Ostern 1948 möglich? Folgendes Rezept wurde empfohlen: „Man nehme 500 g Roggenmehl, 2 kleine Tabletten Süßstoff, eine Prise Salz und rühre alles mit Wasser zusammen. Dann warte man auf die Beendigung der Sperrstunde und versuche das Ganze auf dem elektrischen Kocher gar zu braten. Sollte das gelingen, garniere man die fertige Torte mit geteilten Bucheckern und Steckrübenmarmelade.“
Zum heutigen Verständnis sei angefügt, dass sich die genannte Sperrstunde auf die Energieversorgung bezog. Eine garantierte Lieferung von Gas und Strom gab es nicht. Was den Osterhasen betraf, so hatte dieser 1948 eine Versorgungspause eingelegt. Die Hausfrau musste sich per amtlichen Aufruf mit 50 g Eipulver begnügen. Es gab ein Trostpflaster: Empfohlen wurde Marmelade der Firma Zentis. Sie enthielt nach Angabe der Firma keine Rote Bete, Möhren oder Steckrüben.Lübbecke, 10. Juli 2006