Stadt Lübbecke

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Kriegsende 1945 in Lübbecke

Gedenken zum 50. Jahrestag des Kriegsendes

Vortrag des Stadtarchivars Helmut Hüffmann vor dem Rat der Stadt Lübbecke am 4. Mai 1995

 

Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren, liebe Gäste!

In der Zeit von Oktober 1944 bis Mai 1945 bewegte sich die Lübbecker Stadtgeschichte zwischen zwei extremen Situationen, nämlich der Einquartierung der Waffen-SS, Leibstandarte Adolf Hitler, und der Beschlagnahmung eines Stadtteils für die britische Zonenverwaltung. Im Oktober 1944 bezog die Waffen-SS Quartier in Lübbecke und den umliegenden Dörfern. In Lübbecke war hauptsächlich der Divisionsstab untergebracht. Räumlichkeiten in den Schulen mußten zur Verfügung gestellt werden. Der Stab hatte in der Gauschulungsburg – nach 1945 britische Offiziersmesse und danach Church-House – Quartier bezogen. Ein Teil der Militärverwaltung war im Finanzamt an der Hermann-Göring-Straße, heute wieder Kaiserstraße, und im Gesundheitsamt an der Wittekindstraße untergebracht. In der Volksschule am Markt befand sich das Divisionsgericht. In der Mittelschule an der Bohlenstraße war ein Lazarett eingerichtet. Die Militärapotheke befand sich in der kath. Schule am Hindenburgwall (Niederwall). Außerdem gab es in Lübbecke ein Kommando des Wehrmachtsbefehlshabers der Niederlande. In der Gastwirtschaft Haevescher an der Gerichtsstraße, heute Restaurant "Da Silvio", lag die Kompanie eines Landschützenbataillons. Hier wurden Unteroffizierslehrgänge abgehalten.

Die Einquartierung der Waffen-SS hatte ihren Grund. Die Ardennenoffensive wurde vorbereitet. Am 26. November 1944 rückte die Truppe ab. Eine Reservedivision rückte nach, die Anfang Januar abgezogen wurde. Die Räumlichkeiten in Lübbecke waren äußerst beengt, denn neben dem Militär hatten noch etwa 2.000 Evakuierte und Flüchtlinge in der Stadt eine vorläufige Unterkunft gefunden bei einem ortsansässigen Einwohnerstand von rund 6.000 Einwohnern. Der Ärger mit dem Militär hielt sich in Grenzen. Als Ende November Klassenräume wieder freigegeben wurden, stellte man in der Volksschule am Markt fest, daß ein Radio im Wert von 500,- RM verschwunden war. Der Klassenschrank der technischen Lehrerin Frl. Rausch war aufgebrochen. Zwei Stoppuhren fehlten.

Während des Krieges war es gängige Praxis, daß die NSDAP-Ortsgruppen sogenannte Heimatbriefe an die "im Felde" stehenden Soldaten verschickten. Der Ausdruck "im Felde" ist heute aus dem Sprachgebrauch verschwunden und ist mit "Schlachtfeld" gleichzusetzen. Einer der Gehlenbecker Heimatbriefe hatte folgenden Wortlaut:

Heimatbrief Nr. 8 November/Dezember 1940

Frohe Weihnachten und ein glückliches Neues Jahr
Ortsgruppe der NSDAP, Gehlenbeck Kr. Lübbecke Wf.

Gehlenbeck, den 7. Dezember 1940

Liebe Kameraden!

Ein geschichtlich grosses Jahr geht zu Ende. Der Wechsel ist dazu angetan, Rückblick und Ausschau zu halten. Keinem fällt das Glück in den Schoß. Immer wieder gilt das Wort vom zähen Schaffen und Ringen. Wie der einzelne um sein Dasein kämpft, so muß auch unser Volk um sein Bestehen ringen. Den uns aufgezwungenen Kampf werden wir siegreich beenden, weil wir einen "Adolf Hitler" und eine "Deutsche Wehrmacht" haben.

Nach den Plänen des Führers vollzieht sich die Neuordnung Europas Schritt für Schritt. Rumänien und die Slowakei sind inzwischen dem Beispiel Ungarns gefolgt und ebenfalls dem Dreierpakt beigetreten. Den weiteren englischen Kriegsausweiterungsversuchen auf dem Balkan ist damit wirksam entgegengetreten worden.

Auf Einladung der Reichsregierung und in Erwiderung der vorjährigen Besuche des Reichsaussenministers von Ribbentrop in Moskau, kam der russische Regierungschef Molotow kürzlich nach Berlin, um mit dem Führer und seinen Männern die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern durch eine erneute Fühlungnahme zu vertiefen.

Es ist erstaunlich, mit welcher Tatkraft der Führer an die Arbeit geht. Wie stümperhaft steht ihm dagegen Churchill gegenüber. Er, der sein Volk ins Unglück stürzt. Durch die ungeheuren Schläge unserer Luftwaffe büßt England täglich an Lebenskraft ein. Seine Zukunft ist düster. Mit Bangen sieht das englische Volk dem neuen Jahr entgegen.

Wie anders ist es bei uns. Mit offenem Blick sehen wir in die Zukunft. Es kann und wird nicht anders sein: über Deutschland scheint die Sonne. Das deutsche Volk ist des Glückes übervoll, dass sein Führer und Feldherr "Adolf Hitler" heisst. Er ist unser aller Glückes Schmied. Was er tut, ist immer richtig. Deshalb geht jeder mit ihm durch dick und dünn.

Als sich der Zweite Weltkrieg dem Ende zuneigte, wurden vom Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda Berlin weitere Durchhalteparolen ausgegeben, um die angebliche Widerstandskraft der Bevölkerung zu stärken. Manchem waren bereits Zweifel gekommen. Diese unsicheren Zeitgenossen vertrauten den Informationen von BBC London mehr als den Nachrichten der deutschen Medien. Viele, besonders die eingefleischten Parteigenossen, glaubten den Parolen der Berliner Zentrale. Eine Wunderwaffe sollte zum Einsatz kommen. Sie würde das Kriegsgeschick zugunsten Deutschlands wenden.

Aus der Geschichte wurde der Siebenjährige Krieg beschworen. In den "Westfälischen Neusten Nachrichten", Ausgabe 30. Dezember 1944, wurde den Lesern in Stadt und Kreis Lübbecke ein Gemälde vorgestellt, das Friedrich den Großen in der Charlottenburger Schloßkirche zeigte. Tief in Gedanken versunken, ließ der Monarch die Bilder eines für ihn erfolgreichen Krieges an sich vorüberziehen. Der entscheidende Satz in dem beigefügten Artikel hieß: "Der König suchte den totalen Sieg." In den folgenden Wochen und Monaten wurden den Lesern Bilder aus der deutschen Romantik vorgestellt. Bekannte Namen wie Caspar David Friedrich und Carl Spitzweg wurden in Erinnerung gebracht. Zur Absicht der Propaganda ist nicht viel zu sagen, schon eher zu den Nachwirkungen, die eine Ausstellung zur deutschen Romantik im vorigen Jahr in London hatte. Die britische Presse hatte wieder einmal die Gelegenheit, das deutsche Gemüt auszuloten.

In derselben Zeitung heißt es in der Ausgabe vom 2. Januar 1945: "Die Lübbecker gehen trutzig in das neue Jahr." Die Heimatgeschichte wurde als eine Folge von Kampf und Widerstand geschildert, getreu der Parole Hitlers: "Wer leben will, kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht." Die Lübbecker Burgmannshöfe, die landesherrlichen Burgen Reineberg, Limberg und Rahden waren die kampferprobten Festungen vergangener Jahrhunderte. Auch Widukind auf seinem alten Schlachtroß mußte wieder einmal dran glauben. In seiner Wallburg Babilonie waren er und seine Mannen zum Kampf und Widerstand gerüstet.

In der Ausgabe vom 10. Januar 1945 der "Westfälischen Neusten Nachrichten" war zu lesen, daß der Gauleiter von Westfalen-Nord, Dr. Alfred Meyer, z.Z. Reichskommissar für Verteidigung, an der Front aufgetaucht sei mit einem bedingungslosen Glauben an Führer und Endsieg. Ich erwähne dieses aus folgendem Grund: Der Lübbecker Kreisleiter Ernst Meiring – seit dem 1. April 1941 auch Kreisleiter von Minden und nach Aufgabe von Lübbecke Kreisleiter von Schaumburg-Lippe und Grafschaft Schaumburg – und Gauleiter Meyer waren befreundet. Der Bau der Schulungsburg in Lübbecke, am 11. Juni 1939 von Meyer eingeweiht und seit Mai 1945 britische Offiziersmesse, ging auf Initiative des Kreisleiters und des Gauleiters zurück. Es gab in Lübbecke eine Alfred-Meyer-Kampfbahn, später Kricketplatz der Engländer und heute Sportplatz an der Obernfelder Allee. Eine nach Kriegsende zu bauende Siedlung sollte den Namen des Gauleiters tragen. Abgesehen von seiner NS-Vergangenheit sollte Meiring den Lübbeckern in wenig guter Erinnerung bleiben, wie es die letzten Kriegstage noch zeigen werden. Neben Meiring gab es in Lübbecke folgende führende Parteigenossen: Den stellvertretenden Kreisleiter Gustav Klöpper, den Geschäftsführer und Ortsgruppenleiter Franz Westerfeld sowie als Gauschulungsleiter den Gehlenbecker Amtsbürgermeister Wilhelm Brühmann, der von 1943 bis 1945 auch Bürgermeister der Stadt Lübbecke war.

Als Zeitzeuge habe ich mich auch selbst befragt, wobei immer Skepsis gegenüber der eigenen Erinnerung angebracht ist. Die Erinnerung formt manches um und paßt sich einer veränderten Sichtweise an. Deshalb bin ich mißtrauisch gegenüber der "oral history". Korrekturen durch das Schriftgut der Archive sind immer vonnöten. Als Schüler wuchsen wir in dem Glauben an die Unbesiegbarkeit der Deutschen Wehrmacht auf. Als die Alliierten 1944 in der Normandie gelandet waren, kamen die ersten Zweifel auf, die mit dem Einsatz der V1 und V2 (V=Vergeltung) wieder verflogen. Abschußrampen für die V-Raketen gab es bei Billerbeck im Münsterland. Die Flugbahnen waren noch von Lübbecke aus im Gegenlicht am abendlichen Himmel zu sehen.

Trotz meiner Vorbehalte gegenüber dem menschlichen Erinnerungsvermögen bleiben Bilder, die man nicht vergißt. Ich erinnere mich an die teilnahmslos dahinschlurfenden russischen Kriegsgefangenen, die bei Reparaturen des Schienennetzes der Eisenbahn eingesetzt waren. Es gab die arglos dahermarschierenden Pimpfe der Hitlerjugend, die mit Munition beladenen sogenannten Pulverzüge, die bei Luftalarm nicht in den Bahnhof einfahren durften. Tiefflieger beunruhigten am hellichten Tage die Bevölkerung. Daneben gab es den einfachen bürgerlichen Alltag. Die Doppelbödigkeit der damaligen Zeitumstände heute zu vermitteln, ist schwierig. Einmal war ich fassungslos. Am Himmel sah ich Pulks von alliierten Bombern über mich hinwegdröhnen, fliegende Festungen im Angriff  auf eine deutsche Großstadt.

Im übrigen war absolute Verdunklung angeordnet. Kein noch so geringer Lichtschein durfte nach draußen dringen. Wie es sich für eine ordentliche deutsche Behörde gehört, wurde auch auf diesem Gebiet alles bis ins Detail geregelt. Reklametafeln für Hotels, Gaststätten, Theater mußten dunkelblaues Licht abgeben. Für Fahrräder hieß die Bestimmung: "Fahrradlampen müssen lichtdicht so abgedeckt werden, daß nur ein waagerechter, etwa 1cm breiter Schlitz in der Mitte der Abschlußscheibe das Licht austreten läßt." Diese Vorschrift aus dem Ministerialblatt vom 16. Febr. 1945 bewirkte für die Zivilbevölkerung im Grunde nichts. Bei den Luftangriffen auf die deutschen Städte wurden am nächtlichen Himmel sogenannte Christbäume gesetzt, um die Angriffsziele zu markieren. Es waren Leuchtkugeln, die für Minuten die Angriffsziele in taghelles Licht tauchten, bevor der Bombenhagel losging.

Bei den Luftangriffen auf Osnabrück war der Lichtschein der Christbäume auch in Lübbecke zu sehen. Der nachfolgende Bombenhagel ließ auch hier die Fensterscheiben klirren. Besonders gefürchtet waren die Luftminen. Von einer deutschen Abwehr konnte keine Rede sein. Am Palmsonntag, am 25. März, war der letzte Angriff auf Osnabrück. Was lasen die Osnabrücker in ihrem Tageblatt, der Osterausgabe vom 1. April? "Jeder muß sich seiner Heimatliebe im Kampf würdig erweisen."

An einem sonnigen Frühlingstag, am 28. März, bombte ein morgendlicher Angriff die Altstadt von Minden in Schutt und Asche. Dom und Rathaus waren Ruinen. Die Mindener blickten auf ein Trümmerfeld.

Lübbecke blieb verschont. Ein Wunder? Oder hatte dieses Wunder rationale Gründe? Vereinzelte Bombenabwürfe waren schon zu verzeichnen. Von einem gezielten Angriff konnte keine Rede sein, wie etwa in Bad Oeynhausen mit dem Angriffsziel Weserhütte oder Löhne mit dem Eisenbahnknotenpunkt. Waren die kleinen Rüstungsbetriebe in Lübbecke keine Bedrohung? Oder war Lübbecke so unbedeutend, daß sich weder ein Angriff auf ein militärisches Ziel noch ein Flächenbombardement zur Zermürbung der Bevölkerung lohnte?

Es gab keinen gezielten Bombenangriff auf Lübbecke, jedoch vereinzelte Bombenabwürfe. In der Nacht vom 2. zum 3. März 1945 wurde das Haus Worminghaus am Pettenpohl schwer beschädigt. Die Evakuierte Fräulein Helene Sieber aus Braunschweig kam dabei um, "erlitt den Heldentod", wie es in der Stadtchronik heißt. Am 24. März vormittags fielen zwei Bomben. Eine fiel auf den Marktplatz, die andere traf die Häuser Wippermann und Klute an der Langen Straße. Frau Wippermann, Enkelsohn Hans, die Verwandte Elisabeth Wieners mit ihren Kindern Christel und Barbara sowie Frau Klute kamen dabei um. Die bisherige Sorglosigkeit war in Lübbecke vorbei. Hatte man vorher nach dem Geheul der Sirenen die Luftschutzkeller mehr oder weniger gleichmütig oder gar nicht aufgesucht, so nahm man jetzt die Anordnung zum Luftschutz ernster. Es war allgemein bekannt, daß der alte Bergwerksstollen an der Brauerei von vielen aufgesucht wurde, sobald Voralarm gegeben wurde. Unter den Schutzsuchenden waren viele Evakuierte, die die Bombenangriffe aus eigener Erfahrung nur zu gut kannten. Der Stollen wurde jetzt nach dem 3. März vermehrt von Lübbecker Bürgern aufgesucht.

Die Tagebücher des Lübbecker Fabrikanten, Ratsherrn, Beigeordneten und Bürgermeisters Eduard Gerlach (1882-1958) geben einen direkten Einblick in die damaligen Verhältnisse. Gerlach war seit 1933 Ratsmitglied, ohne der NSDAP anzugehören. Auf Druck des Landrates von Borries trat er 1936 in die Partei ein, ohne ein führendes Amt zu bekleiden. Im April 1945 war er für kurze Zeit Bürgermeister. Mit Franz Welschof gehört er zu den Gründern der örtlichen CDU. Gerlachs Tagebucheintragungen sind von äußerster Genauigkeit. Sie wurden direkt abends unter dem Eindruck der Tagesereignisse niedergeschrieben.

Tagebucheintragung vom 3. Februar 1945:

Voralarm. Tiefflieger 23.05 schießt in Blasheim Zugmaschine der Papierfabrik kaputt. Bomben.

Mit den Bomben dürften Angriffe auf benachbarte Städte gemeint sein. Weiter:

Flieger kommen ohne Gegenwehr! Wann kommt die Abwehrwaffe?!! [...]
Lebensmittelrationen werden gekürzt.

Ein bemerkenswerter Eintrag vom 10. Februar:

Die Tiefflieger werden recht unangenehm! Dabei keinerlei Abwehr gegen die Flieger. Göring oder Meyer?

Der Name "Meyer" wurde von Gerlach wiederholt und zweimal unterstrichen. Gerlach hielt Göring für den, der er war, für ein nichtssagendes Großmaul. Der Bezug auf den Namen "Meyer" hat folgenden Hintergrund. Göring wird folgende Aussage zugeschrieben: "Sollten alliierte Flugzeuge jemals Berlin bombardieren, dann wollte er 'Meyer' heißen." Göring war 1935 der Oberbefehl über die neu gegründete Luftwaffe übertragen worden.

 

Gerlach erwähnt den Volkssturm, ohne sich näher über ihn auszulassen. Am 12. Februar wurde Gerlach in Sachen Volkssturm in die Kreisleitung an der Osnabrücker Straße beordert. Was besprochen wurde, läßt der Tagebuchschreiber offen.

Für die folgenden Ausführungen zum Volkssturm greife ich auf die Akten des Stadtarchivs Lübbecke zurück. Die Ausrüstung des Volkssturmes war ein Hintertreppenwitz. Anordnungen wurden auf einer Bürgermeisterkonferenz am 13. März 1945 im Lübbecker Landratsamt getroffen. Es wurde beraten, wie die Landwachtmänner bewaffnet werden könnten. Auch von der Bekämpfung innerer Unruhen ist die Rede. Der Volkssturm sollte demnach in zwei Richtungen zielen, gegen den Feind und gegen eine Bevölkerung, die zur Unruhe neigte. Ein Verzeichnis über abgelieferte Waffen aus dem Amt Gehlenbeck zeigt, mit welcher fahrlässigen Naivität der Landrat und die Bürgermeister agierten bzw. welche Verblendung ihnen die herrschende Ideologie aufgezwungen hatte oder in die sie hineingewachsen waren, je nach dem, wie man ihre Lebensläufe sieht. Die Amtseinwohner von Gehlenbeck waren aufgefordert worden, Waffen abzuliefern. Abgegeben wurden hauptsächlich Jagdgewehre. Hilfswachtleute, ältere Männer, die zur Bewachung der Kriegsgefangenen eingesetzt waren, sollten die Waffen nicht abgeben. Der Landrat gab zu bedenken, daß die Hilfswachtleute ohne Waffen keine Autorität besäßen.

Zurück zum Gerlachschen Tagebuch. Am 13. Februar wurden die Mindener Kleinbahnen von Tieffliegern angegriffen.

Eintrag vom 23. Februar:

Holle (ein Mitarbeiter der Firma Gerlach) hat Wache bei abgestürztem Flugzeug an der Roten Mühle.

25. Februar:

Der Reichsmarschall setzt seine Düsenflieger noch nicht ein.

Obwohl Gerlach Realist war - seine Eintragungen bezeugen das -, findet man immer Hinweise darauf, daß er glaubte, die übergeordnete Führung habe eine Waffentechnik in der Hand, die den Krieg zu Deutschlands Gunsten wenden könnte. Es ist eine ständige Auseinandersetzung zwischen Zweifel und Loyalität, wobei der Realitätssinn die Oberhand behält.

Erstaunlich ist immer Gerlachs lokales Interesse, das von den Kriegsereignissen unberührt bleibt. Am 2. März treffen sich die wenigen verbliebenen Aktionäre der Schützenhausbaugesellschaft im bekannten Lokal "Ührken" am Gänsemarkt, unter ihnen Gerlach.

Für den 4. März notiert er:

Im Westen haben die Anglo-Amerikaner den Rhein erreicht. Im Osten rückt der Russe in Pommern weiter vor. [...] Dresden vernichtet (13./14. Februar).

Am 10. März notiert er nach einem Besuch der Horsts Höhe:

Bau des Panzerhindernisses.

Weiter heißt es zum 11. März:

Der Betrieb läuft ohne Schwung. Versand nur in kleinen Mengen möglich! [...] Die Anglo-Amerikaner sind am Rhein und teilweise bereits am Ostufer. Können wir den Feind aufhalten?! Die Stimmung ist nicht gut. Der Bau von Panzersperren beunruhigt die Bevölkerung.

Notierung vom 14. März:

Ab 14.30 starke Einflüge. Angriffe auf Löhne. Feuerwehr noch dort. [...] Trübe Stimmung.

Für die nächsten Tage wird immer wieder der starke Einflug der Alliierten notiert. Am 17. März begab sich Gerlach wieder zur Horsts Höhe. Offensichtlich war er von dem Bau der Panzersperre beunruhigt. Für den 17. März werden zweimal Tiefflieger notiert. Weiter heißt es:

Verzweifelte Stimmung. Der Rhein ist bei Remagen überschritten. Köln und Bonn in Feindeshand. Die Ostsee ist von den Russen erreicht. Die Einflüge werden von Tag zu Tag gewaltiger. Keinerlei Abwehr!! Wo bleibt die neue Waffe? Meiring ist Kreisleiter geworden, Klöpper (Berufsschuldirektor u. stellvertretender Kreisleiter) nach Paderborn versetzt. Warum?!! [...] Wie wird der Krieg enden?!!

Am 21. März begab sich der Tagebuchschreiber wieder zur Panzersperre auf der Horsts Höhe. Er notierte, daß sein Mitarbeiter Pohlmann den Einberufungsbefehl zum Volkssturm erhalten habe.

Tagebucheintrag vom 24. März:

Bombenabwurf auf Lübbecke. Haus Wippermann und Klute zerstört. Mehrere Tote. Einschlag auf dem Markt. Im Vorderhaus 6 Scheiben entzwei, in der Fabrik ebenfalls Glasschaden. Der Krieg steht vor seiner Entscheidung. Werden wir das Osterfest noch erleben? Panzersperren werden überall gebaut, als ob diese den Feind einhalten könnten.

Notierung vom 27. März:

19.00 [Uhr] nach Erwin Klug[ein Lübbecker Rechtsanwalt] ohne Licht. Panzerspitze von Aschaffenburg nach Osten durchgestoßen. Im Münsterlande starke Truppen gelandet. Was wird nun? Mit Paul Wilke Bau des Splittergrabens besprochen!

Hierzu ist anzumerken, daß Wilke den sogenannten Posthof in Lübbecke bewirtschaftete. Der Posthof befand sich an der Ecke Bäckerstraße/Gerbergasse. Die Familie Gerlach war mit dem Posthof persönlich eng verbunden. Im 19. Jahrhundert gehörte er der Familie Gerlach. Friedrich-Ludwig Gerlach (1770-1850) war hier Posthalter. Außerdem war er Stadtkämmerer. Das Amt war nach dem System der Ämterverpachtung vergeben. Friedrich-Ludwig Gerlach war noch in anderen Geschäften tätig. Sein Unternehmergeist wirkt bis heute in der Familie nach.

Friedrich-Ludwig Gerlachs Nachfahr Eduard Gerlach notiert am 28. März:

Splittergraben in der Posthof-Wiese am Wall – gegenüber von Meyrahn – vermessen. Mit Ausschachten begonnen.

Sie wundern sich möglicherweise über den militärischen Sachverstand des Tagebuchschreibers. Gerlach war Offizier in einem bayerischen Regiment gewesen und hatte im Ersten Weltkrieg erlebt, was eine heranrollende Militärwalze anrichten konnte.

Weiter schreibt er zum selben Tag:

Osthoff meldet sich (gemeint ist der Ministerialrat Osthoff von der Reichsbahndirektion Berlin). Wir besichtigen "Hunken Steinbruch" am Alten Kirchweg (nach Oberbauerschaft), ob er als Aufenthalt während des Durchmarsches der Feinde geeignet ist.

Am 29. März ruhte der Betrieb. Verschiedene Wehrmachts-Fahrzeuge holten Waren für Kunden ab.

Tagebucheintrag vom 30. März:

Gerüchte gehen um, der Feind sei in Paderborn und Osnabrück.

Aufs äußerste beunruhigt, machte sich Gerlach wieder auf den Weg zu den Panzersperren an der Bohlenstraße und auf der Horsts Höhe. Kleidung und Lebensmittel wurden für den Notfall verstaut. Eine weitere Notiz ist kurz und heißt:

Oeynhausen brennt.

Abends wurde eine Flasche Wein getrunken.

Erstaunlich ist die Eintragung vom 31. März:

Maikräuter gesucht.[...] Nachher Maibowle.

Der Betrieb ruhte. Versand war nicht möglich. Es wurde weiter am Splittergraben gearbeitet. Hier sollten auch Betriebsangehörige eine sichere Unterkunft finden, falls es zu Kämpfen kommen sollte. Es heißt im Tagebuch weiter:

Der Krieg ist verloren. Warum der Wahnsinn eines Widerstandes?!!

Meiring (der also noch in der Stadt ist) will die Stadt verteidigen! Verrückt! Die Stimmung ist denkbar schlecht! Man erwartet die Panzerspitze während der Ostertage!!

1.April:

Soldaten passieren die Stadt. Der Zusammenbruch ist Tatsache!! [...] Vorbereitungen für die Flucht in den Berg.

2. April:

Unruhe! Immer passieren Autos, Panzer und Soldaten die Stadt. Der Zusammenbruch! Hier ist anzufügen, daß auch der Rest aller Ideale, die der Tagebuchschreiber noch gehabt hatte, in sich zusammengebrochen war. Es heißt dann weiter: Tiefflieger. Erstaunlich ist folgende Eintragung: Evakuierte aus Gelsenkirchen reisen wieder ab.

Ob noch Verkehrsverbindungen existieren, wage ich zu bezweifeln. Es ist die Frage, ob die Evakuierten im Hause Gerlach überhaupt über die Lage genau informiert waren. Aus meiner Erinnerung kann ich hier folgendes anfügen: Als die Evakuierten, die in meinem Elternhaus in Lübbecke untergebracht waren, einige Wochen später wieder nach Münster zurückkehren wollten, mußten sie zu Fuß gehen. Ihre Habseligkeiten hatten sie in einen Handwagen geladen, den sie von uns ausgeliehen hatten. Dieser Handwagen kam später auf Umwegen wieder zurück. Ohne Handwagen war man in dieser turbulenten Zeit arm dran. Es war schon erstaunlich, wieviel Gemeinsinn und gegenseitige Hilfe aus der Not der Zeit geboren oder besser wieder erweckt wurde.

Von Gerlach nicht notiert sind die Sprengungen der Brücken über dem Mittellandkanal. Die Benkhauser Brücke, so wurde mir gesagt, war nicht gesprengt worden. Die Eisenbahnbrücke am Lübbecker Kanalhafen war intakt geblieben. Die nach Osten folgende Brücke zur Rahdener Straße war gesprengt worden. Die Lübbecker Stadtverwaltung erhielt sofort nach Einmarsch der Alliierten den Befehl, östlich der gesprengten Brücke eine Behelfsbrücke zu bauen. Die Brücke fügte die beiden Teile des alten Rahdener Weges wieder zusammen. Es ist genau die Stelle, an der heute die Brücke der Bundesstraße liegt. Die Behelfsbrücke stand auf Holzpfosten. Schiffsverkehr war unmöglich. Das Wasser war so klar, daß man von der Behelfsbrücke Panzerfäuste und Waffen, die hier von den fliehenden deutschen Soldaten in den Kanal geworfen worden waren, auf dem Boden des Kanals liegen sehen konnte. Niemand kümmerte sich um die Waffen. Erst bei der Kanalverbreiterung auf Europamaße wurde ihre Gefährlichkeit wieder aktuell. Der Badebetrieb am Kanal wurde 1945 sofort wieder aufgenommen. Niemand scherte sich um eine behördliche Genehmigung, niemand kümmerte sich um die auf dem Kanalboden liegenden Waffen.

Nicht notiert von Gerlach sind die Sprengungen der unterirdischen Munitionshallen in Espelkamp. Ich kann mich noch an die Detonationen und die aufsteigenden Rauchsäulen erinnern. In Espelkamp sollten Kampfstoffe vollautomatisch in Granaten gefüllt werden. Die Anlage wurde jedoch nicht in Betrieb genommen. Fertige Kampfstoffmunition aus Munster war in Espelkamp gelagert.

Am 3. April erreichten die ersten amerikanischen Fahrzeuge Vlotho, wo die Weserbrücke am Rathaus gesprengt war.

An diesem Tag schrieb Gerlach:

11.00 zum Landratsamt: Übernahme des Bürgermeisterpostens.

16.00 zur Kreisleitung mit Ratsherrn: Meiring gezwungen, Lübbecke nicht zu verteidigen. Dann zum Rathaus. 20.00 zur Spinnerei mit dem Hauptmann gesprochen. Besprechung auf der Kreisleitung mit dem Major: im Augenblick keine Gefahr.

Diese Aussage deckt sich auch mit einer Bemerkung in Heinz Redeckers Buch "Weiße Fahnen – und doch kein Ende" : "In der Nacht vom 3. zum 4. April hatte der Bataillonsführer (Hölderle) eine längere Unterredung  mit Männern von den Zivil- und Parteidienststellen der Stadt. Nach seiner Rückkehr erklärte er Oberleutnant Zellmann, einem seiner Kompanieführer: Lübbecke soll eine offene Stadt werden. Der Feind steht bereits an der Stadtgrenze, wir müssen sofort Lübbecke verlassen. [...] Die Quartiere in Levern waren schon für die Aufnahme vorbereitet."

Am 4. April wurde Levern zusammengeschossen nach einem Feuerüberfall deutscher Truppen auf eine britische Panzerkolonne. Dabei wurde auch der Meierhof, ein für die Orts- und Klostergeschichte wichtiges Gebäude, zerstört.

In Lübbecke waren die Panzersperren geöffnet, die im übrigen von keinerlei strategischer Bedeutung waren. Diese Tatsache wird von Gerlach nicht erwähnt. In der Stadtchronik ist festgehalten, daß am 3. April – im Laufe des Tages – die ersten Panzer einrückten und zunächst an der Osnabrücker Straße haltmachten. Am selben Tag wurden einschlägige Akten in den Kesseln des Kreishauses verbrannt. Dasselbe spielte sich auf dem Hinterhof der Kreisleitung ab. Wenn eine Zeitzeugin, eine Angestellte der Kreisverwaltung, zu Protokoll gibt, daß am 4. April morgens ein Gespräch zwischen dem Landrat von Borries und dem Kreisleiter Meiring stattgefunden habe mit der landrätlichen Anordnung, Stadt und Kreis sollten nicht verteidigt werden, so ist festzustellen, daß ein solches Gespräch glaubwürdig ist, nur es war bedeutungslos, denn die militärische Lage war eindeutig. In Minden rückten an diesem Tag kanadische Einheiten ein. Die Stadt Minden erhielt die Auflage bis abends 20.00 Uhr zu kapitulieren. Ein Bombengeschwader stand schon startbereit. Bei einer Weigerung wäre Minden dem Erdboden gleichgemacht worden.

Der ehemalige Lübbecker Kreisleiter hatte sich aus dem Staube gemacht. Der Ortsgruppenleiter und Geschäftsführer Westerfeld war in der Stadt geblieben. Mit anderen Worten: Es ist sinnlos, hier jemanden, in diesem Fall den Landrat v. Borries, zum Befreier Lübbeckes hochzustilisieren. Man kann es auf einen einfachen Nenner bringen: Wir Lübbecker haben Glück gehabt, denn es ist davon auszugehen, daß die Briten bereits wußten, wo sie ihre Zonenzentralverwaltung etablieren würden, nämlich in Lübbecke. Es soll hier nicht verkannt werden, wie im Falle Gerlach, daß eine gute Portion persönlicher Mut dazugehörte, als Ratsherr und Bürgermeister einem ideologisch verbohrten Meiring gegenüberzutreten. Auf einem groben Nenner gebracht: Die Briten bzw. Amerikaner ließen Lübbecke links liegen – wohl absichtlich.

Vor einigen Tagen wurde mir gesagt, daß es ein Flugblatt gegeben habe mit dem Inhalt:

Lübbecke wollen wir verschonen,
denn hier wollen wir ja wohnen.

Ich habe daraufhin die Flugblattsammlung im Stadtarchiv durchgesehen. Ein solches Flugblatt war nicht zu finden. Wenn es ein solches Flugblatt auch nicht gegeben haben sollte, so trifft die Aussage den Kern der Sache.

Ich erinnere mich noch an Gerüchte aus jener Zeit, in denen es hieß, es wären einige Leute bei der Kreisleitung gewesen und hätte Meiring klargemacht, daß Lübbecke nicht verteidigt werden sollte. Als Meiring nicht nachgeben wollte, hätte man ihm vorgehalten, ob er nicht den Geschützdonner vor der Haustür höre.

Gerlach sagt in seinem Tagebuch nicht, wie Meiring zur Aufgabe gezwungen wurde. Ein anderes Gerücht besagte, die Panzerspitzen wären in der Nacht vom 3. zum 4. April an Lübbecke vorbei vorgestoßen. Nur die Lübbecker hätten es nicht bemerkt. Die Lage im Südkreis, der am 3. April besetzt war, bestätigt, daß das Gerücht den militärischen Tatsachen entsprach.

Am 4. April schreibt Gerlach, daß er schon früh morgens um 7.00 im Rathaus anwesend war. Er erwartete Militärbesuch.

Weiter bemerkt er zum selben Tag:

11.40 die ersten amerikanischen Wagen passieren die Stadt. Lange Kolonnen folgen. Gemeint ist die Lange Straße. Erst abends um 19.00 erschienen Offiziere im Rathaus und bestätigten Gerlach als Bürgermeister.

Die ersten zaghaften Annäherungsversuche zwischen Bevölkerung und Besatzung waren schon angelaufen. Coffee, chocolate, cigarettes und soap hießen die ersten Vokabeln, die auf deutscher Seite beherrscht wurden.

Am 5. April war Gerlach von früh bis spät im Rathaus. Er führte Verhandlungen mit der Besatzungsmacht. Ein Quartieramt wurde gegründet. Welche Folgen das haben würde, sollte sich in wenigen Wochen herausstellen. Dolmetscherin war Frau May Bokämper, wohnhaft am Pettenpohl in Lübbecke, eine in Deutschland verheiratete Engländerin.

Welch trauriges Osterfest! schreibt Gerlach. Tage größter Aufregung und Sorge liegen hinter mir. Als Bürgermeister trage ich die Sorge um die Einwohner der Stadt besonders schwer. Was wird aus uns?! War das alles notwendig?!!

Während in Nordwestdeutschland die Kämpfe weitergingen, wurde am 15. April das KZ Bergen-Belsen geöffnet und von seinen Peinigern befreit. Am 25. April drangen die Alliierten in Bremen ein. Am 3. Mai wurde Hamburg kampflos übergeben. Diese Ereignisse wurden in Lübbecke nur noch am Rande wahrgenommen. Evakuierte wurden zum Verlassen der Stadt aufgefordert. Flüchtlinge wurden ferngehalten. Die ersten Privathäuser wurden beschlagnahmt. Die Kontrollkommission für die britische Zone schickte sich an, ihren Hauptverwaltungssitz in Lübbecke zu nehmen.

Am 21. April schreibt Gerlach:

Wenn Hitler diesen unsinnigen Krieg doch einstellte. Göbbels belügt trotz offensichtlichen Verlust des Krieges das Volk weiter! Die Greuel der Konzentrations-Lager kommen zu Tage! Was für Bestien haben dort gehaust! Ein ewiger Schandfleck für die Nazis!

Am 17. Juni schreibt Gerlach:

Die Engländer lassen weitere Häuser räumen. [...] Das alles verdanken wir unserem Führer! Der Teufel soll ihn holen!

Wie es sich für einen ordentlichen Geschäftsgang gehört, wurden die Kosten für das Abräumen der Panzersperren bei der Stadtverwaltung abgerechnet. Der Lübbecker Bauunternehmer Bünemann, der als Architekt für den Bau der Schulungsburg verantwortlich gezeichnet hatte, schickte der Stadtverwaltung am 7. Juni 1945 eine Rechnung mit einem Betrag von 320,95 RM, der am 22. März 1947 zur Zahlung angewiesen wurde.

Die Schulungsburg, heute Church-House der noch verbliebenen britischen Einheiten in Deutschland, wurde sofort nach dem Einmarsch der Alliierten beschlagnahmt. Das Finanzamt an der Hermann-Göring-Straße, wie die Kaiserstraße immer noch hieß, wurde sofort konfisziert. Die Zentralbehörde für die britische Zone hielt hier Einzug. Nach einer Liste der Stadtverwaltung setzte sofort die Beschlagnahmung der Privathäuser und öffentlichen Gebäude ein. Sperrzonen wurden eingerichtet. Ein ganzes Stadtgebiet wurde mit Stacheldraht umzäunt. Am 10. und 12. April ergingen Besatzungsbefehle an die ortsansässigen Handwerker. Die einzige Wäscherei am Ort, Wellpott an der Niedernstraße, wurde sofort als Armeewäscherei deklariert. Die Firma Gerlach hatte als erstes Nachkriegsprodukt Bohnerwachs für die Pflege der beschlagnahmten Häuser herzustellen. Hatten die Lübbecker vorher die polnischen Zwangsarbeiter der St-Paulus-Innung kennengelernt, so machten sie jetzt die Bekanntschaft mit Polen, die mit der polnischen Exilregierung nach London gekommen waren, und nach Ende der Kampfhandlungen in Lübbecke einquartiert wurden.

Der private Wohnraum in Lübbecke war aufs äußerste beschränkt. Auf Dachböden und in Kellern wurde übernachtet. Es gab aber einen angenehmen Nebeneffekt. Schnell waren die Arbeitsstellen beim "Tommy" begehrt, besonders die in den Armeeküchen, und davon gab es in Lübbecke mehr als genug. Begehrt waren die Zigaretten aus Armeebeständen. Trotzdem sah man immer wieder Kippensucher auf den Straßen. Es war die Zeit der Zigarettenwährung. Der Schwarzmarkt blühte. Zur täglichen Kost gehörten Maisbrot und der klebrige Kubazucker. Kein Bauernhof, an dem nicht täglich angeklopft wurde. In der Landwirtschaft hatte es noch nie so viele freiwillige Helfer gegeben.

Wer damals im Herbst 1945 mit dem Zug in eine deutsche Großstadt fuhr, wußte, daß drangvolle Enge herrschen würde. Mancher versuchte, über Kartoffelsäcke und Koffer hinweg einen Sitzplatz in einem Abteil zu ergattern. Häufig erfolglos. Es gab noch die Eisenbahnwagen mit den an den Außenseiten längslaufenden Trittbrettern. Auch diese waren vollgestellt mit Kartoffelsäcken. Gefürchtet war, wenn der Zug auf einem Bahndamm vor dem Hauptbahnhof halten mußte. In den Gräben lauerten schon andere, die darauf aus waren ...

Am 11. Jan. 1946 versammelten sich im Sitzungssaal des Kreishauses die von der Militärregierung bestellten 14 Gemeindevertreter der Stadt Lübbecke. Die Sitzung wurde von dem Vertreter der Militärregierung, Major How, eröffnet. In dem Gremium war eine Dame vertreten, Frau Anna Haddewig. Sie hatte am 13. April 1933 an der Sitzung des Stadtrates als Vertreterin der SPD teilgenommen. In dieser Sitzung hatte der Stadtverordnete Lehrer Lohmann erklärt, daß die Vertreter der SPD von der kommunalen Arbeit zu entbinden seien.

Am 10. August 1944 war in den "Westfälischen Neusten Nachrichten" folgende Todesanzeige erschienen:


"Ein tragisches Geschick entriß uns plötzlich und unerwartet meinen treuen, innigstgeliebten Mann, unsern guten, treusorgenden Vater, Schwiegervater, Schwiegersohn, unsern lieben Schwager, Onkel und Neffen

Karl Haddewig

im 54. Lebensjahr.

In stiller Trauer:

Anna Haddewig geb. Schrewe.
Fähnrich Karlheinz Haddewig,
z. Zeit Kriegsschule.
Uffz. Hermann Haddewig, z. Zt. Südfront
und alle Anverwandten.

Lübbecke, den 7. August 1944".

Die Anzeige schien unverfänglich. Die Wahrheit durfte nicht gesagt werden. Karl Haddewig war im Konzentrationslager Lahde bei Minden vergiftet worden.

 

Zum Lebensweg Karl Haddewigs. Eine Anzeige gegen Karl Haddewig, wohnhaft Kapitelstr. 7, lag am 25. Okt. 1933 bei der Stadtverwaltung vor, abgegeben von der Geschäftsfrau W. an der Langen Straße. Sie wollte durch das offene Oberlicht ihres Geschäftes gehört haben, wie Karl Haddewig Parteigenossen mit "Rot-Front" begrüßt habe. Das wurde von Zeugen abgestritten. Haddewig gab bei der Befragung an, nie der KPD angehört zu haben. Seit 20 Jahren sei er Mitglied der SPD. Außerdem sei er Mitglied des Reichsbanners. Haddewig war im ersten Weltkrieg Kriegsteilnehmer, wurde verwundet, kam in russische Kriegsgefangenschaft und in ein Lager in Sibirien. Der Oberstaatsanwalt stellte das Verfahren ein, ordnete aber verschärfte Überwachung an.

Landrat v. Borries am 8. März 1934:

"Haftanordnung folgt, sobald die Genehmigung zur Aufnahme in ein Konzentrationslager vorliegt".

Am 19. Juni 1944 wurde Schutzhaft angeordnet. Haddewig arbeitete zu dieser Zeit als Heizer in der Kammgarnspinnerei. Die Direktion setzte sich für eine sofortige Freilassung Haddewigs ein. Vergeblich. Haddewig kam in das Konzentrationslager Lahde.

Wegen der Todesanzeige und des darin enthaltenen Ausdrucks "tragisches Geschick" kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen der Tageszeitung und dem Bürgermeister der Stadt, Gauhauptstellenleiter Wilhelm Brühmann.

Zum Andenken an Karl Haddewig möchte ich hiermit dem Rat gegenüber den Antrag stellen, bei der nächsten Vergabe von Straßennamen den Namen von Karl Haddewig zu berücksichtigen. Ich bitte um Protokollaufnahme. [Nachtrag: Der Haupt- und Finanzausschuss der Stadt Lübbecke hat am 06.12.2001 beschlossen, für eine Straße im neuen Baugebiet am Wiehenweg den Namen "Karl-Haddewig-Straße" zu vergeben.]

Sieht man die Abläufe der hier skizzierten Zeitspanne, dann ist sie innerhalb der Stadtgeschichte, die, von schriftlichen Zeugnissen ausgehend, über 1200 Jahre zurückverfolgt werden kann, ein scheinbar kleiner, fast unbedeutender Abschnitt. In einem der vielen Aufsätze, die in diesen Tagen in den Gazetten erschienen, hieß es:

"Die Radikalität und Singularität, die Zerstörungs- und Vernichtungskräfte, die von Hitler ausgingen, verbieten eine gedächtniswürdige Erinnerung und politische Tradition. Gleichwohl fallen die langen belastenden Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit bis in die Gegenwart; ihre Intensität nimmt zu, je mehr wir uns chronologisch vom Ende des Dritten Reiches entfernen. Jeder Versuch, sie zu leugnen und zu verdecken, verstärkt ihre Wirkung."

Der Ausdruck "die von ihm ausgingen" würde ich in "die in ihm gebündelt und skrupellos eingesetzt und genutzt wurden" umändern, denn schließlich konnte sich der Diktator zahlloser Mittäter und Mitläufer sicher sein.

Der tägliche Existenzkampf forderte im Frühjahr 1945 alle Kräfte. Keiner wußte, wie es weitergehen würde. Manche fürchteten gar, daß die Westzonen in mehr oder weniger kurzer Zeit der Diktatur des Kommunismus anheimfallen würden.

Wird mit all dem die lange traditionsreiche Geschichte der Stadt Lübbecke hinfällig? Was hat Lübbecke nicht schon alles erlebt und überstanden? Die Stadt des Mittelalters besaß eine Selbstverwaltung, von der ein Rat heute nur träumen kann. Die militante Stadt mußte sich in zahlreichen Fehden und Auseinandersetzungen behaupten. Eine schützende Hand des Staates mit Subventionen gab es nicht. Die Stadt als Ganzes war handelndes Subjekt. Sie kontrollierte ein Markengebiet mit etwa 30 Dörfern und Bauerschaften und war Vertragspartner bei Landfriedensbündnissen. Die landesherrliche Gewalt der Bischöfe von Minden hatte immer Gegenspieler in den Landständen und vor allem in der Stadt Minden und nicht zuletzt in Lübbecke mit seiner Ritter- und Bürgerschaft.

Zum Objekt wurde Lübbecke in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Waffentechnisch und defensiv im Ausbau seiner Befestigung geriet Lübbecke ins Hintertreffen. Unter brandenburg-preußischer Verwaltung war die Stadt nur noch Befehlsempfänger einer regierungswütigen Obrigkeit, die bis in die Stuben der Untertanen hineinregierte. Absolute Herrscher als Despoten sind nur zu gut bekannt. Die Personalverbände des Mittelalters blieben nominell bestehen, wurden aber politisch entmachtet zugunsten einer selbstbezogenen Staatsidee. Die Untertanen wurden geführt und gegängelt. Ein langsamer Umwandlungsprozeß fand statt, der in Autoritätsgläubigkeit mündete. Eine radikale Revolution wie in Frankreich blieb aus. Die Revolution von 1848 blieb ein Torso. Ihre hochgesteckten Ziele blieben vorläufig Ideale. Diese Umstände allein führten nicht in die Katastrophe unter Hitler, jedoch wurde das NS-Regime durch vorgegebene Strukturen begünstigt. Von einem ernstzunehmenden Widerstand kann nur partiell die Rede sein. Die wenigen, die es wagten, den Mund aufzumachen, wurden mundtot gemacht. In Lübbecke sah es in dieser Beziehung nicht besser aus als in anderen Städten.

Wenn heute richtig von Befreiung gesprochen wird, dann muß nach meiner Ansicht die Befreiung in der Mentalität zum Ausdruck kommen. Eine Selbstverwaltung der Stadt wie im Mittelalter ist nicht mehr möglich. Allein die Auflagen der Technik und der Wirtschaft haben ihre eigenen Zwänge und Normen. Andererseits: Muß alles bis ins kleinste durch Verordnungen und Erlasse geregelt sein? Genau diese Verordnungsflut provoziert der Bürger, wenn er ständig nach den Leistungen der Kommune oder des Staates ruft und auch bei Bagatellangelegenheiten zum Gericht rennt. Natürlich ist immer der andere schuld – oder total aus der Verantwortung: Die repressive Gesellschaft muß für alle eigenen Fehlleistungen herhalten.

Meine Meinung ist folgende: Wenn sich der Bürger nicht auf die alte bürgerliche Tugend der Selbstverantwortung als einzelner oder in der Gruppe besinnt, dann nutzt die Befreiung wenig. Demokratie muß sich immer aufs neue bewähren. Diktaturen, diktatorisches Gehabe treten in immer neuen Gewändern auf. Machthunger kennt keine Selbstbeschränkung. Es sei denn, man setzt ihm entschlossen Grenzen. Daß ein Interessenausgleich möglich ist, zeigt im Rückblick das Wirken der Personalverbände im Gemeinwesen der Stadt Lübbecke, solange sie das allgemeine Bürgerwohl im Auge hatten.

Lübbecke, 10. April 2006

Autor: Stadtarchivar Helmut Hüffmann 

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