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Weg der Erinnerung

Lübbecke gedenkt des Schicksals seiner jüdischen Bevölkerung in der dunkelsten Stunde der deutschen Geschichte.

Fluchtgeschichten: Weg der Erinnerung 2024

Im Gedenken an die Opfer der Schreckensherrschaft des NS-Regimes findet jährlich am 9. November in Lübbecke der „Weg der Erinnerung“ statt.

In diesem Jahr greift er unter dem Titel „Fluchtgeschichten“ ein Thema auf, das die Situation der 1930er- und 40er-Jahre mit der Gegenwart verbindet, denn auch aktuell verlassen Menschen überall auf der Welt ihre Heimat. Sie fliehen vor Krieg, Verfolgung, Folter, Terror, Gewalt, Naturkatastrophen; vor Hunger und Armut. Wer flieht, will sich aus einer lebensbedrohlichen Zwangslage in Sicherheit bringen.

In der NS-Zeit stellte sich auch den jüdischen Familien in Lübbecke die Frage, ob es eine Möglichkeit zur Flucht vor dem NS-Regime geben könnte. Manche jüdischen Familien waren damals schon mehr als 100 Jahre in Lübbecke zu Hause. Sie feierten Gottesdienste in der Synagoge, erhielten jüdischen Religionsunterricht und begingen die jüdischen Feste. Auch die evangelischen und katholischen Christen und Christinnen trafen sich in ihren jeweiligen Gotteshäusern zu Gottesdiensten, kirchlichem Unterricht und zu den christlichen Festen.

Lübbeckerinnen und Lübbecker, egal welcher Religion sie angehörten, kamen in Vereinen zusammen, besuchten gemeinsam die Schule, die Kinder spielten miteinander. Die Erwachsenen wählten gemeinsam den Stadtrat, der aus Juden und Christen bestand. Feste wie das Schützenfest besuchte man gemeinsam. Es gab damals schon mehrere Fabriken und zahlreiche kleine Läden in Lübbecke. Viele Fabrikbesitzer oder Ladeninhaberinnen und Ladeninhaber waren christlich, etliche andere waren jüdischen Glaubens. Moslems lebten damals noch nicht in Lübbecke. So lebte, arbeitete und feierte man miteinander. Das änderte sich in den 1930er-Jahren.

Adolf Hitler war seit 1921 Parteivorsitzender der NSDAP. Er lehnte Wahlen und demokratische Entscheidungen weitestgehend ab. Deshalb war die NSDAP bereits seit 1922 in mehreren deutschen Ländern verboten. Auch in Preußen, also auch in Lübbecke, war das so. 1923 kam es in München zum Putsch der NSDAP gegen die bayrische Regierung und gegen die amtierende Reichsregierung in Berlin. Der Putsch wurde niedergeschlagen, Hitler und andere Putschisten wurden verhaftet und verurteilt. Nach dem Putsch wurde die NSDAP im gesamten Deutschen Reich verboten.
 
Zur Zeit des Putsches herrschte eine Weltwirtschaftskrise. Auch in Deutschland waren die Arbeitslosigkeit und Armut groß. Das Papiergeld war nichts mehr wert. Deshalb hatten viele Menschen Angst und waren mit der bisherigen Regierung unzufrieden. Es „brodelte“ in der Bevölkerung. 1925, Hitler war inzwischen vorzeitig aus der Haft entlassen worden, veranlasste er die Neugründung der NSDAP und wurde zu deren „Führer“. Die NSDAP gründete in vielen Städten und Dörfern Ortsgruppen und gewann viele neue Parteimitglieder dazu.

Die Ortsgruppe der NSDAP Lübbecke wurde erst 1930 gegründet. Aber sie gewann – wie überall in Deutschland – schnell Zulauf und immer mehr Wahlen. So wurde Hitler schließlich am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Manche nennen das „Machtübernahme“, andere sprechen von der „Machtergreifung“. Zu diesem Zeitpunkt war die NSDAP die stärkste Fraktion im Reichstag.

Knapp einen Monat später brannte der Reichstag in Berlin. Diese Brandstiftung nutzte die NSDAP, um Gesetze zu erlassen, die ihr selbst immer mehr Macht zugestanden. Gleichzeitig schränkten die Gesetze die persönlichen Grundrechte der Bevölkerung zunehmend ein. Gegner des NS-Regimes wurden verfolgt und verhaftet. Dau gehörten besonders auch Menschen jüdischen Glaubens.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden überall in Deutschland Synagogen mutwillig angesteckt, auch in Lübbecke. Am Abend des 9. November hatte die hiesige NSDAP zunächst eine feierliche Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den gescheiterten Hitler-Putsch in München 1923 abgehalten. Unzählige Menschen hatten sich daran beteiligt. In der Stadtchronik wurde zu den Ereignissen jener Nacht unter anderem festgehalten: „Die Feierstunde, von der Ortsgruppe der NSDAP veranstaltet und von der SA gestaltet, wurde für alle Teilnehmer zu einem Erleben.“ Anschließend fand auf der Grünanlage zwischen der Wartturmstraße und der Schützenstraße die Weihe des sog. „Horst-Wessel-Gedenksteines“ statt. Horst Wessel war ein kämpferischer NSDAP-Anhänger aus Bielefeld und 1930 von politischen Gegnern ermordet worden.

Doch mit der Einweihung des Denkmals endete die Nacht noch nicht, denn im Anschluss kam es zu judenfeindlichen Kundgebungen in der Stadt. In deren Verlauf zertrümmerten Angehörige der SA und der SS die Schaufenster jüdischer Geschäfte, demolierten die Wohnungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger und misshandelten mehrere Menschen. Es soll in dieser Nacht auch zu Verhaftungen einiger jüdischer Bürger gekommen sein. Häuser und Geschäfte, deren jüdische Eigentümerinnen und Eigentümer schon vor dem Pogrom einem Verkauf an nicht-jüdische Eigentümer zugestimmt hatten, blieben unangetastet.

Bei der brennenden Synagoge wurde kein Löschversuch unternommen. Sie brannte bis auf die Grundmauern nieder. Noch am nächsten Morgen schwelten die Überreste.

Nach offizieller NS-Lesart waren die Ausschreitungen deutschlandweit spontan durch die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris ausgelöst worden. Dieser war von einem polnischen Jugendlichen jüdischen Glaubens angeschossen worden und an den Verletzungen gestorben. Tatsächlich lässt sich aber heute belegen, dass der Pogrom von langer Hand geplant worden war.

Etliche jüdische Familien aus Lübbecke hatten bereits im Vorfeld der Novemberpogrome des Jahres 1938 versucht, sich den zunehmenden Repressalien durch Umzug in eine Großstadt zu entziehen. Sie hatten gehofft, dort „untertauchen“ oder sogar ins Ausland emigrieren zu können. Andere verließen erst in den Folgejahren die Stadt. Als Mitte 1941 die „Endlösung der Judenfrage“ von der NS-Regierung propagiert und dadurch die Deportation und Ermordung von Millionen Juden veranlasst wurde, lebten – soviel bisher bekannt ist – bereits keine jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mehr in Lübbecke.

Beim diesjährigen „Weg der Erinnerung“ greifen „Fluchtgeschichten“ die damalige Situation der Verfolgten zwischen Hoffnung und Verfolgung auf. An den Stationen des Weges werden Familien- und Einzelschicksale jüdischer Familien aus Lübbecke nachgezeichnet. Die Veranstaltung beginnt im Andreas-Gemeindehaus und führt von dort über die Straße „Feuerrenne“ zum „Platz der Synagoge“.

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Lübbecke und der "Weg der Erinnerung"

Quellen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lübbecke führen bis ins Mittelalter zurück. Steinernes Zeugnis ist der sogenannte "Peststein" am Nordportal der heute evangelischen St.-Andreas-Kirche. Er verweist auf die Erweiterung der Kirche bis 1350 sowie auf die damals herrschenden Zeitumstände (Pest, Geißler, Judenpogrom).

Später gab es über Jahrhunderte hinweg häufig ein harmonisches Zusammenleben zwischen Christen und Juden in der Stadt. 1932 gehörten der jüdischen Gemeinde Lübbecke noch etwa 40 Gemeindeglieder an. Im Frühjahr 1938 war die Zahl durch Sterbefälle und Wegzüge um etwa 10 Personen gesunken. Nach dem Novemberpogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, bei dem mehrere Wohnhäuser jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger zerstört wurden und die Synagoge niederbrannte, sank die Zahl weiter. Letzte Zwangsverkäufe („Arisierungen“), Umzüge Lübbecker Jüdinnen und Juden innerhalb Deutschlands und Fluchten ins Ausland fallen in diese Zeit. Spätestens Anfang 1942 galt Lübbecke nach damaligem Sprachgebrauch als „judenrein“.

1961 wurde ein Gedenkstein am „Platz der Synagoge“ eingeweiht. Eine intensive Erinnerungskultur und damit die Aufarbeitung der Gräuel der NS-Zeit setzte jedoch erst zögerlich ein. So engagierte sich beispielsweise der DGB mit jährlichen Kranzniederlegungen am Gedenkstein. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus gründete sich Mitte der 1980er Jahre die Arbeitsgemeinschaft „Geschichte der Juden in Lübbecke“.

Mit personeller und finanzieller Unterstützung der Stadt Lübbecke entstanden mehrere Publikationen über die Geschichte und das Schicksal der hiesigen jüdischen Gemeinde. Auch fanden auf Einladung der Stadtverwaltung Treffen ehemaliger jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger bzw. derer Nachkommen in Lübbecke statt. In ihrem Beisein konnte 1986 vor dem Gedenkstein noch eine Bodenplatte mit den Namen der betroffenen jüdischen Familien eingeweiht werden.

Es entwickelte sich das Anliegen der Bevölkerung, jährlich am 9. November in einer Gedenkveranstaltung an die Opfer des NS-Terrors zu erinnern. Diese inzwischen als „Weg der Erinnerung“ bekannte Veranstaltung unter Federführung der Stadt Lübbecke bindet heute neben dem DGB u. a. auch die Stadtheimatpflege, die Evangelisch-lutherische und die Katholische Kirchengemeinde der Kernstadt sowie die weiterführenden Schulen ein.

Das Thema für den jährlichen „Weg der Erinnerung“ wird im gemeinsamen Vorbereitungskreis festgelegt und von den beteiligten Schulklassen vorbereitet. Die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema erfolgt dabei unter archivpädagogischer Betreuung durch das Stadtarchiv. Dadurch wird den beteiligten Schülerinnen und Schülern ein persönlicher Zugang zu dieser erschütternden Zeit der deutschen Geschichte und der Lokalgeschichte ermöglicht. Zudem kann vermittelt werden, welche Chancen eine aktive Einbindung in die gesellschaftlichen Belange und eine mündige Bürgerschaft bieten. So greift der „Weg der Erinnerung“ das auf, was die Bodenplatte am „Platz der Synagoge“ fordert.

Neben dem Gedenkstein, der Bodenplatte und dem „Weg der Erinnerung“ gibt es in Lübbecke über das Stadtarchiv und die Angebote von Lübbecke Marketing noch weitere Angebote, sich mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde Lübbecke und der NS-Zeit auseinanderzusetzen.